Teil II
Nach der unglücklichen Kampagne Preußens 1806 und der darauf folgenden Gefangenschaft in Frankreich, die Clausewitz zusammen mit dem Prinzen August von Preußen als dessen Adjutant antrat, begann ein sehr bedeutender Lebensabschnitt für ihn. Die Jahre 1807 bis 1812 hatten wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des damaligen 27-jährigen (*1780) Offiziers. Diese fünf Jahre waren gekennzeichnet durch gewaltige Umwälzungen in Preußen, die Clausewitz dann ab 1808 bei den führenden Männern der Reformen in Preußen sahen. Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Gneisenau, Boyen und Grolman gaben Clausewitz die Möglichkeit, federführend am Reformwerk mitzuarbeiten. Hier wirkte sich bereits sein Verständnis der historischen Dialektik Hegels aus, das ihn später in seinem Hauptwerk »Vom Kriege« zur Darstellung des Verhältnisses von Politik und Krieg führte. An der Kriegsakademie als Schüler Kiesewetters (*1766; †1819 Berlin) von Kant gehört, ist eine persönliche Beziehung Clausewitz´zu Hegel nicht geklärt. Gleichwohl erkennen wir Hegels Dialektik in der Frage „Was ist der Krieg?“
»(…) Wir denken die einzelnen Elemente unseres Gegenstandes, dann die einzelnen Teile oder Glieder desselben und zuletzt das Ganze in seinem inneren Zusammenhang zu betrachten, also vom Einfachen zum Zusammengesetzten fortzuschreiten. (…)«
(Clausewitz »Vom Kriege«, Erstes Kapitel, 1. Einleitung, Verlag MfNV Berlin, 1957, S. 17)
Dieser rational denkende Clausewitz, der in der Blütezeit deutschen Geistes lebte und wirkte, war ein leiser Beobachter, der offensichtlich nach allen Seiten offen war. Davon zeugt der vielfältige Briefverkehr zwischen der Braut und späteren Ehefrau Marie geb. Gräfin von Brühl (*3. Juni 1779 als Gräfin Marie Sophie von Brühl in Warschau; †28. Januar 1836) sowie mit seinen engen Vertrauten Scharnhorst und Gneisenau. Vom Menschen Clausewitz zeugt auch eine wohl einzigartige Charakteristik, gegeben von General Graf v. d. Groeben(1788 bis 1876). Dieser begegnete Clausewitz 1810 an der Kriegsschule zu Berlin, kämpfte mit ihm in der »Russisch-Deutschen Legion« und war 1815 1. Generalstabsoffizier in Koblenz und somit ein enger Gefährte desselben.
Im Vorwort des Bd. 9* zu den hinterlassenen Werken Clausewitz´, den er 1837 herausgab, lesen wir:
»(…) Selten hat sich in einer Person eine solche Stärke der Meditation mit so großer Tiefe des Gemüts und Zartheit der Empfindung verbunden wie in Clausewitz… Wie eine Sinnpflanze, die sich öffnet oder schließt, so erschloß er sich dem Vertrauen oder verschloß sich dem Mißtrauen. Aber Freund und Feind fand in allen Wechselfällen des Lebens in ihm den Ehrenmann, der überall nur die Sache kennt, nicht die Person. Er war der Mann der ruhigen Besonnenheit, seltener Klarheit und unerschütterlicher Festigkeit der Gesinnung. Aber nicht allein im Gebiet des militärischen Wissens und des Krieges war er stark; er war auch Staatsmann im höheren Sinn des Wortes. Aber weil er eben so war, so stand er auch den Männern so nahe, welche die Zeitgeschichte mit so hoher Achtung nennt als Gneisenau, Scharnhorst, Stein. (…)«
(*Strategische Beleuchtung mehrerer Feldzüge – Gustav Adolph, Turenne, Luxemburg und andere historische Materialien zur Strategie 1837)
Nahm dieser patriotisch gesinnte, gleichermaßen von der Politik enttäuschte Clausewitz des Jahres 1812 – gerade die »Bekenntnisschrift«* publizierend und nach Russland abgehend – das damalige brisante Thema der »Judenemanzipation« wahr? Registrierte er den Einsatz jüdischer Soldaten in den Kampagnen 1813/14/15? Beschäftigte er sich nach 1818 als Direktor der Kriegsschule mit dem Fortgang der Emanzipation? Begegnete er dieser Frage in der Zeit zwischen 1830 und 1831 als Inspekteur der Artillerie und als Chef des Generalstabes der Observationsarmee unter Gneisenau in Polen? Wenn ja, wie rezeptierte er das? Wie und wo erscheint Clausewitz in diesem Zusammenhang?
*Aus der Bekenntnisschrift Carl von Clausewitz´ 1812:
»(…) Diese kleine Schrift ist bestimmt, die politische Meinung derjenigen vor den Augen der Welt zu rechtfertigen, welche den Widerstand gegen Frankreich für notwendig hielten, der allgemeinen Meinung weichen mussten und als überspannte Toren oder gefährliche Revolutionäre oder leichtfertige Schwätzer oder eigennützige Intriguants verschrien wurden. (…)«
(IX. Bekenntnisschrift 1812, Eröffnungssatz, Rothfels: Carl von Clausewitz politische Schriften und Briefe, S. 80)
Es ist nun nicht unser Ziel, die jahrhundertelange Repression der Juden in Preußen und in den deutschen Landen darzustellen. Das würde den Rahmen unserer Betrachtung sprengen, der sich der Emanzipation und teilweisen Integration jüdischer Männer in die Preußischen Armee ab dem Jahre 1808 bis zum Tode Clausewitz‘ 1831 widmet.
Clausewitz, geboren 1780, wuchs in einer Zeit der Endphase der Aufklärung auf, die mit der über zehn Jahre dauernden Französischen Revolution 1789 bis 1799 am 18. Brumaire (9. November 1799) durch einen Staatsstreich Napoléons endete. Unmittelbar in dieser Zeit, noch nicht ganz 12 Jahre alt, trat Clausewitz am 01. Juni 1792 als Gefreiten-Corporal des Infanterieregiments »Prinz Ferdinand« seinen Militärdienst an, der 39 Jahre mit verschiedenen Dienststellungen andauern sollte.
Der Gefreiten-Corporal und spätere Fahnenjunker diente heranwachsend in einer Armee, in der Dienstvergehen der Soldaten noch mit Prügel bestraft wurden. Obwohl: Offiziere und Unteroffiziere, zu denen Carl wohl zählte, konnten nicht mit Prügel bestraft werden. Sie wären dadurch entehrt worden. Für sie galt sinngemäß »(…) in Freiheit dienen (…)«, frei nach Fontane (*1819; †1898). Nach Lage der Dinge war der junge Carl in einer Zwischendienststellung und wurde auch in dieser Umgebung sozialisiert. Jeder, der in einer Armee gedient hat, kann sich ungefähr vorstellen, wie der junge Clausewitz lebte und welche Atmosphäre unter den Gleichgestellten geherrscht haben könnte. Er und Seinesgleichen lebten zwar im Mannschaftsbestand, aber saßen auch am Tisch des Kompaniechefs und verbrachten die karge Freizeit mit den subalternen Offizieren. Auf dem Marsch und im Biwak sowie in der Kampagne lebten sie als einfache Unteroffiziere mit den Mannschaften, aßen und tranken mit ihnen und holten Wasser und Feuerholz, wenn es notwendig war.
(Vergleiche nach Ruth Bleckwenn – Zelt und Lager im altpreußischen Heer – Das altpreußische Heer 1713 bis 1807)
Unser Gefreiten-Corporal Clausewitz hatte Fortune, als er mit seinen Kameraden am 6. Juni 1793 das Dorf Zahlbach vor Mainz stürmte, er blieb unversehrt und avancierte zum Fahnenjunker. Und er stimmte später auch in den Jubel seiner Soldaten ein, als die ersten Flammen des bombardierten Mainz aufloderten. Es muss gewaltig gewesen sein, denn auch Goethe beobachtete damals die Stadt in Flammen und war mitfühlend beeindruckt.
(Vergleiche – Peter Paret »Clausewitz und der Staat«, S. 46)
Es hätte unseren späteren Kriegsphilosophen auch anders treffen können. Fahnenjunker bildeten mit der Fahne in der Hand im Kriege immer ein lohnendes Ziel gegnerischer Schützen. Ein Beispiel aus späterer 1806-er Zeit kann das untermalen.
»(…) Wilhelm von Schleinitz […] gehörte mit 14 Jahren, 1806, als Fähnrich dem Braunschweiger Regiment an, das unter den Augen des berühmten Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand focht, als der Herzog in höchster Tragik endete. Ein alter Unteroffizier trug neben dem schmächtigen Knaben […] die schwere Fahne des Bataillons im Sturm der Schlacht. Der junge Fähnrich verlangte immer dringender sie selber zu tragen, und immer wieder erklärte der alte Unteroffizier: >Die ist zu schwer für Sie!< Bis der Fähnrich zornig rief: > Geb er mir die Fahne, ich befehle es, denn ich bin als Fähnrich sein Vorgesetzter!< So übergab ihm widerstrebend der Alte die Fahne und der Junge schritt, sie hoch erhebend, in den Kugelregen voran. Er rief, sich wendend, noch dem Unteroffizier zu: >Frau und Kinder hast du! – du darfst nicht sterben!< In diesem Augenblick aber stürzte er tot, von der Kugel ins Herz getroffen, mit der Fahne zu Boden. (…)«
(Vergl. »Willensmenschen – Über deutsche Offiziere«, Breymayer, Ulrich Wieland (Hg.), S. 228, Fischer Verlag 1999)
Dessen war sich Clausewitz immer bewusst. Aus Soissons schrieb er am 2. Juni 1807 an Marie, über seinen Geburtstag am 1. Juni sinnierend:
»(…) Im 12. Jahre vertauschte ich an diesem Tage das wollene Feldzeichen mit dem silbernen, im 13. wurde ich vor Mainz Offizier, im 14. befand ich mich in einem heftigen Gefechte in einer bösen Lage, aus der ich glücklich entkam; (…)«
(Vergl. Carl und Marie von Clausewitz – Briefe, Ein Leben im Kampf für Freiheit und Reich, von Otto Heuschele, S. 89)
Wir können annehmen, dass womöglich an den Wachtfeuern damals auch Gespräche geführt wurden, die sich mit Land und Leuten beschäftigten. Vielleicht auch über die Juden, wenn es in irgendeiner Situation zu Kontakten gekommen war. Wir wissen es nicht. Jedoch dürfte auch dem jungen Clausewitz bekannt gewesen sein, welchen Status Juden in Preußen einnahmen. In seiner Heimatstadt Burg gab es eine kleine jüdische Gemeinde von sog. Schutzjuden. Im Jahr 1785 waren es sieben Familien, die bis 1830 25 Mitglieder zählten, die nur einige Straßen weiter von seinem Elternhaus lebten.
(Vergl. /www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/a‑b/506-burg-sachsen-anhalt)
Vater Clausewitz, preußischer Accise-Beamter, Friedrich Gabriel Clauswitz(∗1740; †1802) gedienter Secondelieutenant unter Friedrich II., hatte mit Sicherheit mit diesen Menschen zu tun gehabt. Ob darüber in der Familie Clausewitz gesprochen wurde, möglich, auch das wissen wir nicht. Als gesichert kann angesehen werden, dass Vater Clausewitz mit den besonderen Einwohnergruppen der Stadt Burg Kontakt hatte. Im 18. Jh. lebten französischstämmige Hugenotten, Pfälzer und Deutsch-Reformierte in nicht geringer Anzahl in Burg. Friedrich Gabriel Clausewitz verkaufte
»(…) sein verkommenes erstes Haus im Jahr 1798 über das Pfälzer Koloniegericht an einen deutsch-reformierten Bäckermeister. (…)«
(Vergl. Bernhard Thüne-Schoenborn [Hg] »Die Familie Claus(e)witz in Burg 1753 bis 1824« …, S.7)
Für den Bau seiner beiden Häuser (812 und 813) lieh der Jude Selig Hirsch, Erbe des Schutzjuden Levin Hirsch, am 26.01.1793 Friedrich Gabriel jeweils 250 Taler in Gold. Beide Hypotheken wurden am 15.05.1798 von seinem Sohn Gustav Marquard Friedrich mit einem Zinssatz von 5% zurückgezahlt.
(Quelle: Burger Grund- und Hypothekenbuch im Landesarchiv Sachsen-Anhalt, S. 486)
Nachgewiesen ist, dass die Juden Preußens im 18. Jhd. gewissermaßen als Bürger 2. Klasse galten, die bis auf wenige Privilegierte außerhalb der Gesellschaft standen. Eliten wie Gemeindevorsteher und Gelehrte sowie wenige »Hofjuden und Hoffaktoren« standen in der Nähe der Fürsten. So der Bankier Veitel Ephraim(1703 bis 1755), der zum Teil den »Siebenjährigen Krieg« Friedrich II. finanzierte.
(Vergl. W. Grab »Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789 bis 1938«), S. 11)
Eine kleinere Schicht kaufte sich in eine Stadt- oder Dorfniederlassung ein. Sie stellten eine sichere Finanzquelle der Obrigkeit dar. Daneben lebten in der Mehrzahl besitzlose Juden, denen elementare Bürgerrechte wie Handwerksniederlassungen verwehrt wurden. Offen dagegen waren der Handel, der Geldverleih, die Wissenschaften und die Kultur. In ungünstigen Situationen wurden besonders arme Juden als »Landplage« betrachtet und wo immer sie auftauchten, verjagt oder verfolgt.
(Vergl. M. Berger »Eisernes Kreuz und Davidstern« Die Geschichte Jüdischer Soldaten in Deutschen Armeen, S. 25)
Der junge Clausewitz, obwohl noch Schüler der Stadtschule, die auch nicht weit weg von ihm lag, wuchs also in der Vielfalt der Burger Religionsgemeinschaften und unter eher ungebildeten Soldaten auf. Sein Gedächtnis dafür war auch um 18130 noch deutlich vorhanden. So schrieb General Clausewitz auf einer Dienstreise, nachdem er seine Geburtsstadt besucht hatte, an seine Frau Marie:
»(…) Meine Vaterstadt Burg hat mich diesmal besonders gerührt. Sie sieht viel stattlicher aus, und es war gerade Kirchgang, was mir die Sonntage meiner Kindheit sehr lebhaft ins Gedächtnis rief. (…)«
(Vergl. Bernhard Thüne-Schoenborn, S. 14)
Sehr religiös war die Familie Clausewitz wohl eher nicht, wie wir bei Thüne-Schoenborn lesen können. Gleichwohl stützte er später – wir kommen darauf zurück – Fichtes (Johann Gottlieb Fichte, *1762; †1814) Sicht auf die Religionen. Der Mensch und Militär Carl von Clausewitz muss jedoch eine spirituelle Beziehung zum Gottesglauben gehabt haben, wenn wir sein Schrifttum – hier »Vom Kriege« – und sein gelebtes Leben als General betrachten. In seinem Hauptwerk spricht er, den Krieg als »Chamäleon« charakterisierend:
»(…) sondern er 〈der Krieg〉
ist auch seinen Gesamterscheinungen nach in Beziehung auf die in ihm herrschenden Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln. 1957, S. 36)
Wahrscheinlich kannte er auch den Bibeltext »Der Brief des Paulus an die Römer, Röm 12, 17 bis 21«, der an die römischen Soldaten gerichtet war. In dem geschrieben steht:
»(…) Röm 17. – Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jederman und Röm 19 – Rächt euch nicht selbst. (…)«
(Vergl. Das Neue Testament)
Ein Zeugnis davon könnte der Brief Clausewitz´an seine Frau Marie vom 12. Juli 1815 aus Fontainbleau sein. In diesem Brief, geschrieben nach Waterloo, befürchtet Clausewitz, dass übertriebene Forderungen des Preußischen Oberkommandos gegenüber dem nunmehr geschlagenen Gegner kein gutes Ende nehmen würden. So entrüstete sich Clausewitz darüber, dass neben unangemessenen Kontributionen auch die Forderung Blüchers stand, die »Brücke von Jena« in Paris – nach Jena und Auerstedt 1806 – im Jahre 1814 so benannt, in die Luft zu sprengen, was F. W. III. verhinderte. Clausewitz hatte einen Präliminarfrieden mit Frankreich im Sinn, der keinen neuen Krieg im Keim haben würde.
»(…) Mein sehnlichster Wunsch ist […], schreibt er an Marie, […] daβ dieses Nachspiel ein baldiges Ende nehmen möge; denn eine Stellung mit dem Fuβe auf dem Nacken eines anderen ist meinen Empfindungen zuwider und der unendliche Konflikt von Interessen und Parteiungen meinem Verstande. Geschichtlich werden die Engländer die schönste Rolle in dieser Katastrophe spielen; denn sie scheinen nicht wie wir hergekommen zu sein mit der Leidenschaft der Rache und Wiedervergeltung, sondern wie ein züchtigender Meister mit stolzer Kälte und tadelloser Reinheit – kurz, vornehmer als wir. (…)«
(Vergl. Carl und Marie von Clausewitz – Briefe, Ein Leben im Kampf für Freiheit und Reich, von Otto Heuschele, S. 246 bis 248)