Teil XIV
Bruno Colson legt dar, dass Clausewitz bereits 1804 Machiavellis »Reden über Titus Livius’ erste Dekade« gelesen hatte.
»(…) Er bewunderte die Betonung der Realität der Macht durch diesen, und wahrscheinlich entwickelte er seine Überlegungen über die engen Verbindungen zwischen Krieg und Politik erst bei seiner Lektüre. (…)«
(Vergl. »Clausewitz´Realismus und sein Respekt vor dem Gegner«, Burger Clausewitzjahrbuch 2020, HG Forschungsgemeinschaft Clausewitz Burg, S. 181 bis 183)
Später, noch vor der unglücklichen Doppelschlacht von Jena 1806, so Colson, liest Clausewitz daraufhin Gentz´»Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa«.
»(…) Von dem wahren Begriffe eines politischen Gleichgewichts. Das, was man gewöhnlich politisches Gleichgewicht (balance du pouvoir) nennt, ist diejenige Verfassung neben einander bestehender und mehr oder weniger mit einander verbundner Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines andern, ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für sich selbst, beschädigen kann. (…)«
(Vergl. Gentz, Friedrich, Fragmente aus der neusten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa, St. Petersburg (Leipzig) 1806 (Friedrich Gentz, Gesammelte Schriften, Hg. von Kronenbitter, Günther, Bd. IV, Hildesheim 1997), S. 1 bis 9)
Gentz schrieb die »Fragmente« nach dem 14. September 1805, angesichts der drohenden Niederlage Österreichs gegen Napoléon Bonaparte.
»(…) Am 14.September fand endlich eine große Versöhnung zwischen dem Graf Cobenzl* und mir statt. Ich entschloß mich nun, für Österreich die Feder zu ergreifen, und entwarf den Plan zu einem Werke über das politische Gleichgewicht. 〈…〉«
(Vergl. Friedrich von Gentz, Tagebücher, Leipzig 1873, S. 49)
*Johann Ludwig Graf von Cobenzl (*1753; †1809) Minister für auswärtigen Angelegenheiten Österreichs 1801 bis 1805)
Über den Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, der bis zum Vorabend der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt 1806 mit Gentz in Verbindung stand, erlangte womöglich Clausewitz Kenntnis vom Text Gentz´. Wohl letztmalig traf Genz mit dem Prinzen unter dem 6. September 1806 zusammen.
(Vergl. Friedrich von Gentz, Tagebücher, Leipzig 1873, S. …)
Louis-Ferdinand blieb am 10. Oktober in einem unglücklich geführten Gefecht bei Saalfeld. Clausewitz schrieb darüber am 12. Oktober 1806 an seine Braut Marie:
»(…) Der Tod des Prinzen hat fast der ganzen Armee Trauer gekostet; das Gefecht selbst ist ohne alle Folgen. Übermorgen oder in zwei bis drei Tagen wird es zur großen Schlacht kommen, der die ganze Armee entgegensieht. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clausewitz« Ein Lebensbild in Briefen und Tagebuchblättern, Karl Linnebach, Verlag Warneck, Berlin 1906, S. 67)
Friedrich Wilhelm der III. bemerkte zum Tod des Neffen Friedrich des Großen lakonisch:
»(…) Hat wie ein toller Mensch gelebt, ist wie ein toller Mensch gestorben, die Scharte nur klein, muß aber ausgewetzt werden. (…)«
(Vergl. Prinz Louis Ferdinand von Preußen Gestalt einer Zeitenwende, E. Kleßmann, List Verlag, 1972, S. 251)
In seiner Zeit nannte man den Prinzen auch den »preußischen Apoll«. Dieser Mann, der nicht nur den Degen führen konnte, sondern der Nachwelt vierzehn Kompositionen hinterließ, die Beethoven beachtlich fand und Goethe hörte, erfreut sich bis heute einer romantischen Verehrung. Beethoven widmete dem Prinzen sein 3. Klavierkonzert c moll, op. 37, und Fontane ihm elf Strophen eines seiner Gedichte. Hier nur der erste Vers:
Prinz Louis-Ferdinand
Sechs Fuß hoch aufgeschossen,
Ein Kriegsgott anzuschaun,
Der Liebling der Genossen,
Der Abgott schöner Fraun,
Blauäugig, blond, verwegen
Und in der jungen Hand
Den alten Preußendegen –
Prinz Louis Ferdinand.
(Vergl. Theodor Fontane , Aus der Sammlung Deutsches. Märkisch-Preußisches)
Clausewitz, offensichtlich beeindruckt von dieser Schrift, wollte die »Gentzschen Fragmente« in die Köpfe der preußischen Minister bringen, so Colson weiter. Es ist anzunehmen, dass sich »die Fragmente« des Preußen Gentz, im Dienste Österreichs, in »Vom Kriege« widerspiegeln, wenn Clausewitz die Resultate der Befreiungskriege, nach 1815 betrachtend, schreibt:
»(…) Die politischen Interessen, Anziehungen und Abstoßungen hatten sich zu einem sehr verfeinerten Systemten ausgebildet, so daß kein Kanonenschuß in Europa geschehen konnte, ohne daß alle Kabinette ihren Teil daran hatten. (…)«
(Clausewitz »Vom Kriege«, Hg. Halweg, VIII, Kap 3.B, zitiert durch Colson in Burger Clausewitz Jahrbuch 2020, S. 186)
Clausewitz beobachtete also schon als junger Offizier die Wege der europäischen Politik, die immer auch ihn persönlich betrafen. Zum Zeitpunkt seines Dienstes in Koblenz unter Gneisenau wird ihm immer mehr bewusst werden, worin die Ursachen der kolossalen Veränderungen in Europa lagen. Später formuliert er in »Vom Kriege«:
»(…) Die ungeheuren Wirkungen der französischen Revolution nach außen sind aber offenbar viel weniger in neuen Mitteln und Ansichten ihrer Kriegsführung als in der ganz veränderten Staats- und Verwaltungskunst, in dem Charakter der Regierung, in dem Zustande des Volkes usw. zu suchen. (…)«
(Vergl. Clausewitz »Vom Kriege«, Verlag MfNV, Bln. 1957, S. 733)
Messerscharf erkannte Clausewitz alte und neue Fehler der Politik, womöglich die Wirkung des Wiener Kongresses betrachtend, indem er eben da formuliert:
»(…) Man kann also sagen: Die zwanzigjährigen Siege der Revolution sind hauptsächlich die Folge der fehlerhaften Politik der ihr gegenüber stehenden Regierungen. (…)«
(Vergl. Clausewitz »Vom Kriege«, Verlag MfNV, Bln. 1957, S. 734)
Wie ein roter Faden durchziehen die Fragen des Gleichgewichts der Kräfte Clausewitz´ Denken. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir seine Sicht auf die revolutionären Ereignisse der Jahre 1830/31 darstellen werden.
Zunächst aber beginnt Carl in Koblenz mit dem Jahr 1816 an der Arbeit seines monumentalen Werkes »Vom Kriege«, womit er neben seinen allgemeinen Dienstobliegenheiten bis zum Jahre 1830, beschäftigt sein wird. Dazu Paul Donker ***:
»(…) Selbst erwähnt Clausewitz in einem kurzen Brief an seinen guten Freund Graf Carl von der Gröben zum ersten Mal, dass er an einem Buch arbeitet; dieser Brief wurde vermutlich am 17. Mai 1816 aus Koblenz versandt. Nach ein paar einführenden Bemerkungen schreibt er Folgendes: Was die Arbeit betrifft, von welcher Graf Gneisenau gesprochen, so kennen Sie die erste Probe davon schon. Ich habe im verflossenen Winter in dieser Manier den größten Theil der Strategie bearbeitet, allein das Manuskript eignet sich gar nicht zu einer Mitteilung, da es lauter rohe Werkstücke sind, die noch vielfältig bearbeitet, auch zum Theil vielleicht ganz verworfen werden müssen. (…)«
(Vergl. Der Panzergrenadier, 21. Jahrgang, Vol. 41, Issue 1/2017, S. 69 bis 79)
***(Infanterieoffizier in der königlichen niederländischen Armee und ist derzeit Dozent für Militärstrategie an der niederländischen Verteidigungsakademie)
Die nun folgenden zwei Jahre bis 1818 waren geprägt mit Muße, Routinearbeiten als Chef des Stabes sowie durch eine kurze Präsenz als Kommandant von Aachen, um den Kongress der Staatsoberhäupter und Staatsmännern Europas vom 30. September bis 15. November 1818 sicherzustellen. Auch diesen Auftrag, den der König mit Kabinettsanordnung vom 17. August 1818 verfügte, erfüllte Clausewitz, der zuvor am 19. September zum Generalmajor avancierte, offensichtlich stabsmässig zur Zufriedenheit seines Monarchen. General Clausewitz war nun 38 Jahre alt. Und »en passant« fand sich Carl seit dem 9. Mai als Direktor der allgemeinen Kriegsschule wieder, worüber wir hier noch berichten werden.
Die weiteren Jahre gingen jedoch auch mit der schrittweisen Isolierung der Reformer einher. Den Anfang sehen wir mit dem Rücktritt Gneisenaus vom Kommando in Koblenz. Die Bezeichnung seines Kreises in Koblenz als »Wallensteins Lager« durch die »Maulwürfe« in Berlin hatten den zukünftigen Feldmarschall gekränkt, wie wir aus einem Brief Gneisenaus an Hardenberg vom 6. Februar 1821 erfahren:
»(…) Nur wenige Jahre sind verflossen, wo man mich, während meines Generalkommandos am Rhein, für einen Revolutionsmann ausgab, die Koryphän des Herkommens aus Haß gegen meine Vorliebe für die neuen den Staat wieder gebärenden Einrichtungen, die Revolutionäre aus Parteiklugheit. Ich stand allein, verschmähte es, mich zu verteidigen und legte meine Stelle nieder, um zu beweisen, daß mich keine ehrgeizige Absicht beherrsche. (…)«
(Vergl. »Gneisenau – Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, Koehler & Amelang/Leipzig, 1939, S. 368)
Im gleichen Brief erinnert Gneisenau Hardenberg auch an Clausewitz, dem ebenso Geheimbündelei vorgeworfen wurde:
»(…) Und haben wir nicht ein Gleiches an dem General Clausewitz erlebt, dem die Diplomaten hier den Radikalismus aufgehalst haben und der nicht einmal soviel Blöße zum Verdacht gegeben als ich, indem er sich stets von den des Liberalismus Verdächtigen entfernt gehalten, über welchen Punkt ich, meiner Gesinnung mir bewußt, achtloser gewesen bin. (…)«
(Vergl. »Gneisenau – Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, Koehler & Amelang/Leipzig, 1939, S. 368)
Boyen konnte noch veranlassen, dass Gneisenau nach seinem Abschiedsgesuch »in Urlaub auf unbestimmte Zeit«, aber als aktiver General geführt wurde. Jedoch wurde auch dieser Stand Wochen später aufgehoben. Das Jahr 1818 sah Gneisenau als Gouverneur der Stadt Berlin. 1819 wurde er für den Posten des Präses der Ober-Militär-Examinations-Kommission verpflichtet. Was wohl mehr als eine Art Aushängeschild zu werten war als ein Wunsch, der Kommission Inhalt zu verleihen. Auf den Helden von Wavre und Belle-Alliance konnte der König offensichtlich nicht verzichten.
(Vergl. »Das Leben de Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau« von Hans Delbrück, Bln. 1908, S. 327 bis 329)
Im Streit um die Landwehr entließ Friedrich Wilhelm III. Boyen, nach ihm nahm auch Grolmann seinen Abschied. Clausewitz an der Kriegsschule ohne Einfluss auf die Lehre in der Ausbildung junger Offiziere. Scharnhorst seinen Wunden erlegen. Alle Mitstreiter der Militärreform auf Nebengeleisen befindlich, zunächst ohne nennenswerten Einfluss auf die weiteren Geschicke des Staates.
Wie sehr der Abgang Gneisenaus, der bis zuletzt geheim blieb – nur Boyen war eingeweiht – Clausewitz getroffen haben mag, entnehmen wir einem Klagebrief Clausewitz´vom 13. Mai 1816 an Gneisenau:
»(…) Wir setzen uns alle jetzt wieder in dem Glauben und der Hoffnung fest, daß Euer Excellenz unter uns zurückkehren werden. – Sie haben von allen Seiten die Klagen und den Kummer widertönen hören, welche Ihr Abtreten hervorgebracht hat, und würde noch ungleich mehr Stimmen der Art gehört haben, wenn Ihre Absicht hier im Lande nicht verborgen geblieben wäre. (…)«
(Vergl. »Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau« von Hans Delbrück, Bln. 1908, S. 323)
Wir sehen Gneisenau und Clausewitz ab dem Jahr 1818 in Berlin wieder vereinigt. Dieser Bund zweier preußischer Offiziere, in gegenseitiger Achtung und Freundschaft gelebt, wird weitere 13 Jahre bestehen, bis beide Männer einer heimtückischen Krankheit erliegen, die sie im Dienste des Königs ereilt.
Die Berliner Zeit von 1818 bis 1830 verlief für Clausewitz in relativer Ruhe, abseits vom großen Weltgeschehen, wie es schien. Es war die Zeit, die Kriegserlebnisse zu reflektieren und auch die in seiner Zeit gegenwärtigen politischen Bewegungen zu werten und daraus zu schlussfolgern. In dieser Frage blieb sich Clausewitz unerschütterlich treu trotz allerlei Schwierigkeiten, die er als Offizier zu bewältigen hatte.
Die uns zugänglichen Quellen sagen über diese Lebenszeit Clausewitz relativ wenig aus, da Korrespondenzen auf Grund der physischen Nähe des Ehepaares Clausewitz miteinander und auch zu Gneisenau, natürlicherweise überflüssig waren. Bis auf einige Badereisen, auf die Ritter Wilhelm von Schramm in seinem Buch »Clausewitz – Leben und Werk«, S. 512 verwies, waren vor allem die regelmäßigen Aufenthalte auf Gut Erdmansdorf bei Gneisenau bedeutungsvoll in seiner relativ ruhigen Berliner Geschäftstätigkeit. Dabei waren die Berliner Kontakte durchaus nicht eintönig, wie man annehmen könnte. Gneisenau sendet an Amalie von Helvig (deutsche Schriftstellerin, *1776; †1831) unter dem 3. Januar 1818 folgende Einladung:
»(…) Gnädige Frau […] Herr und Frau von Clausewitz werden morgen Abend hier zubringen. Wir wollen aber in ganz kleiner Gesellschaft kurz unter uns sein; ich erlaube mir demnach die Anfrage, ob Sie uns die Freude machen wollen ebenfalls zu erscheinen; dann würde ich auch Herrn und Frau Arnim zu uns bitten, sowie Madame Lorent aus Schweden, vielleicht auch Rauch und Tieck, wenn Sie es genehmigen. Daß auch an den Herrn General von Helvig die Einladung gerichtet ist, verseht sich. (…)«
(Vergl.»Gneisenau – Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, Koehler & Amelang/Leipzig, 1939, S. 355 bis 356)
Ein illustrer Kreis, wenn wir ihn näher betrachten und durchaus weder zahlenmäßig noch von der Prominenz her klein zu werten. Wie müssen wir uns die Gespräche vorstellen, die die Eheleute mit den Gästen Gneisenaus geführt haben? Da war die Schriftstellerin Amalie von Helvig (*1776; †1831), die einen der bedeutendsten Berliner Salons führte, die Goethe und Schiller kannte und von Alexander von Humboldt verehrt wurde. Daneben die Frau Lorent, Gattin des Kaufmanns Robert Lorent***, Vertrauter Gneisenaus, der für ihn brisante Briefe für Hardenberg beförderte. Rauch, der das Grabmal für Königin Luise und Scharnhorst sowie ein Denkmal für Blücher schuf. Tieck, der romantische Dichter. Achim von Arnim, bekannt von der Tischgesellschaft. Und zuletzt General der Artillerie von Helvig, ausgewiesener Kenner der schwedischen und preußischen Artillerie.
*** (Vergl. Brief Gneisenaus an Hardenberg, London, den 29. August 1812 – in »Gneisenau – Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, Koehler & Amelang/Leipzig, 1939, S. 191). Und »Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau«, Hg. Pertz/Delbrück, Verlag Reimer, 1865, S. 370)
Wir stellen uns hier hoch intellektuelle und kurzweilige Gespräche vor, die womöglich auch durch politische Inhalte der Zeit geprägt waren. Zu dieser Zusammenkunft – davor und danach – könnten alle damals wichtigen Fragen zur Debatte gestanden haben. Vor allem sicherlich die unmittelbar mit und nach dem Wiener Kongress ans Licht getretenen Erscheinungen. Clausewitz wurde Zeuge einer Hungersnot in den süddeutschen Staaten in Folge einer Missernte in den Jahren 1816/17, verursacht durch ein »Jahr ohne Sommer«.
Das »Wartburgfest« der studentischen Burschenschaften sorgte 1817 für erhebliche Aufregungen. Durch den Gebietszuwachs nach Wien offenbarten sich soziale Probleme, die zu beachten waren. Die nach wie vor ungeklärte Frage nach dem Status der jüdischen Bürger spiegelt sich 1819 in den »Hepp-Hepp-Krawallen« in vielen deutsche Städten wider, die zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden führten. Die Ermordung des deutschen Dramatikers und Schriftstellers August Friedrich Ferdinand von Kotzebue durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand, die letztendlich die »Karlsbader Beschlüsse« und die »Demagogenverfolgung« zur Folge hatten, stellten 1819 einen traurigen Höhepunkt dar.
(Vergl. »Staatskrieg und nicht-staatliche Kriege in Clausewitz Vom Kriege«, Andreas Herberg-Rothe, In: Jäger, Thomas/Kümmel, Gerhard/Lerch. Marika (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit. Außenpolitische, innenpolitische und ideengeschichtliche Perspektiven. Festschrift für Wilfried von Bredow zum 60. Geburtstag. Baden-Baden 2004, pp. 23 bis 38) Dem Adel und dessen Rolle in der damaligen Gesellschaft widmet sich Clausewitz sehr ausführlich und stellt deutlich dar, warum dieser Stand insbesondere nach der Französischen Revolution auch in Preußen an Bedeutung verloren hatte. Wir erinnern hier an die Causa von der Marwitz, die wir weiter oben dargestellt hatten, die dazu den Vergleich zulässt. Die Majorität in seiner Schrift sehen wir jedoch in der Einschätzung Clausewitz´, die Resultate der Befreiungskriege betreffend:»(…) der Kampf reichte bis ins Jahr 1815, schloß aber damit, daß Frankreich in seine alten Grenzen zurückgewiesen, Deutschland in den seinen wiederhergestellt und der Unterdrücker auf einer Felseninsel festgeschmiedet war. […] Auf diesem Punkte fanden die sogenannten Umtriebe das deutsche Volk, mit deren Entstehung und Natur wir uns beschäftigen wollen. (…)«(Vergl. Carl von Clausewitz »Politische Schriften und Briefe«, Dr. Hans Rothfels, Drei Masken Verlag, 1922, »Umtriebe«,1819 bis 1823, S. 169)
Nachfolgend behandelt Clausewitz sehr ausführlich die soziale Verfasstheit (siehe Herberg-Rothe) Preußens und der deutschen Länder, jedoch unserer Ansicht nach nicht vollständig. Ob letzteres beabsichtigt oder nicht, wissen wir nicht. Möglicherweise kannte Clausewitz schon Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«“, erschienen 1821, und er »selektierte« die auf ihn eindringenden Informationen?
(Vergl. Goethe »Wilhelm Meisters Wanderjahre« III, aus Makarins Archiv)Was würde Clausewitz unter »Umtriebe« verstanden haben? In Brockhaus Encyklopädie, Ausgabejahr 1827, lesen wir:»Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für gebildete Stände«, Band 11: »(…) Umtriebe [Demagogische] in Deutschland. Dieser Ausbruch bezeichnet ein bisher in der deutschen Nation unerhörtes, vor kurzem aber einem Theile derselben Schuld gegebenes , strafbares Bestreben, durch geheime Verbindungen den Wunsch nach dem Umsturze der bestehenden legitimen Verfassung allgemein zu verbreiten und dessen Ausführung vorzubereiten. (…)«
(Vergl. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. …, Band 11, Leipzig-Brockhaus, 1827, S. 472 )Der Text in der Enzyklopädie von 1827 behandelt das Thema »Umtriebe« über 14 Seiten in aller Ausführlichkeit, die der Clausewitz‘schen Betrachtungen ähnlich und teilweise detaillierter erscheint. Letzteres ist wohl auf das Erscheinungsjahr zurückzuführen, denn zum Zeitpunkt der Niederlegung Clausewitz´»Umtriebe« waren die Zusammenhänge und Abläufe noch nicht umfassend aufgearbeitet. Die »Central-Untersuchungskommission« in Mainz hatte einen ausführlichen Bericht zusammengestellt und diesen wohl erst im April 1823 – mehrfach überarbeitet – der Bundesversammlung übergeben. Gleichwohl müssen wir sagen, dass wir von Clausewitz wohl mehr eine philosophische Wertung dieser Erscheinungen als eine enzyklopädische erwarten konnten.
In seiner Schrift »Umtriebe« widmet sich Clausewitz sehr ausführlich der akademischen Jugend, die in den Befreiungskriegen eine führende Rolle im patriotischen Sinne spielte. Im Angesicht des Sieges über Napoleon wuchs vor allem in der Jugend der Wunsch nach einer Einheit der deutschen Länder. Das sah Clausewitz übrigens – zum Zeitpunkt nach 1815 – als »vollkommen lächerlich« an.
(Vergl. Carl von Clausewitz »Politische Schriften und Briefe«, Dr. Hans Rothfels, Drei Masken Verlag, 1922, »Umtriebe« (1819 bis 1823), S. 170)
Dabei hinterlässt der gestandene preußische Offizier hier den Eindruck, die Intentionen und damit auch die Handlungen dieser Jugend, die nach Verfasstheit des ganzen Deutschlands strebte, nicht zu billigen. Clausewitz betrachtete das als »Ziele einer konfusen Begeisterung«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Politische Schriften und Briefe«, Dr. Hans Rothfels, Drei Masken Verlag, 1922, »Umtriebe« (1819 bis 1823), S. 172)
Ohne dass es in der Schrift explizit dargelegt wurde, können wir annehmen, dass auch Stein, Arndt und Jahn und andere »Philosophen« in ihrem Wirken gemeint waren. So hatten Stein und Arndt eine gemeinsame Auffassung zu den deutschen Fürsten allgemein, die nun nach Wien 1815, wie Stein meinte,
»(…) 36 kleine Despoten, welche die Nation verunedeln und den Einfluß Frankreichs verewigen im Zuge der Neuordnung Deutschlands so weit wie möglich auszuschalten (…)« seien.
(Vergl.»Arndt und Stein«, S. Jacob, E.-M.-Arndtgesellschaft, 2. Jahrgang 1993, Sonderbd. 1, S. 56)
Zumal Stein auch am Preußenkönig schon früher (1807) kein trockenes Haar ließ:
»(…) nichts vermochte, ihn [den König Anm. Autor] zu edlen großen Entschlüssen zu bringen, nicht die Wichtigkeit des Zwecks, nicht die Leichtigkeit, ihn zu erreichen und die Ruhe und Unabhängigkeit seines Staates zu sichern, er blieb taub gegen alles dieses und versank in sein gewohntes Nichts. (…)«
(Vergl. Stein an Reden, 3. 7. 1807, Botzenhart III, S. 232)
Letzteres würde Clausewitz wohl unter Umständen geteilt, jedoch – trotz allen Grolls des Königs ihm gegenüber – aber wohl öffentlich nicht vertreten haben. Vielmehr beklagt Clausewitz in seiner Schrift das Irreleiten der Jugend und die Folge dessen:
»(…) Zwei Extravaganzen schlugen zuerst Lärm in Deutschland und Europa; das Studentenfest auf der Wartburg 1817 und Kotzebue´s Ermordung 1819. In beiden sprach sich das nämliche Gefühl aus – ein leidenschaftlicher Haß gegen diejenigen, die anders dachten, die Übeldenkenden der Puritaner zu Crommwells Zeiten, jetzt die Philiströsen genannt. Diese Herrschsucht und Gewaltsamkeit kam hier etwas zu früh; […] die deutsche Jugend verstand sich auf diese Dinge zu wenig und fiel mit der Tür ins Haus. Nun fingen die Regierungen an, gegen diese Jugend eine feindselige Stellung einzunehmen, und es entstanden inquisitorische Untersuchungen, bei welchen sie auf manches Gewebe von Burschenschaften und geheime Verbindungen stießen.(…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Politische Schriften und Briefe«, Dr. Hans Rothfels, Drei Masken Verlag, 1922, »Umtriebe« (1819 bis 1823), S. 177 bis 178)
Görres Schrift »Deutschland und die Revolution«, erschienen 1819, erhält von Clausewitz ebenfalls kein gutes Zeugnis.
»(…) Das Buch soll eine große Anklageakte der deutschen Regierungen sein, es schwebt aber ewig in allgemeinen Deklamationen, Bildern, Gleichnissen und Illusionen, Zusammenstellungen und was der Rednerei mehr ist. Nur zwei Gegenstände sind bestimmt genannt: der erste ist die Nichtvereinigung Deutschlands zu einem neuen Kaiserreiche, der andere die stehenden Heere. Beide ergeben von dem gesunden Menschenverstande des Verfassers keinen sonderlichen Begriff. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Politische Schriften und Briefe«, Dr. Hans Rothfels, Drei Masken Verlag, 1922, »Umtriebe« (1819 bis 1823), S. 179)
Letztendlich führten alle diese Umtriebe, getragen von der Jugend in Preußen und in den deutschen Ländern, so Clausewitz, zum »Karlsbader Kongreß« im Jahr 1818.
»(…) Auf dem Karlsbader Kongreß hatte eine Beratung der Regierungen darüber stattgefunden, und es war beschlossen worden, daß man diesem Wesen auf jede mögliche Weise steuern wollte. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Politische Schriften und Briefe«, Dr. Hans Rothfels, Drei Masken Verlag, 1922, »Umtriebe« (1819 bis 1823), S. 183)
In die Geschichte eingegangen sind diese Beschlüsse als »Demagogenverfolgung«, der neben vielen anderen auch Arndt und Jahn anheimfielen. Einer davon war auch der Magdeburger Karl Friedrich Friesen, (∗1784; †1814), wie weiter oben bereits erwähnt, Anhänger der Turnbewegung Jahns, Kampfgefährte Schills und Adolf Freiherr von Lützows sowie Theodor Körners, 1814 in Frankreich gefallen. Auf Grund der nachwirkenden politischen Verfolgungen konnten die sterblichen Überreste Friesens erst unter dem Nachfolger König F. W. III. 1843 in Berlin beigesetzt werden.
Clausewitz erwähnte in den »Umtrieben«, wie weiter oben erwähnt, dass man im Verlaufe von Untersuchungen der Regierung »(…) auf manches Gewebe von Burschenschaften und geheime Verbindungen(…)« stieß.
Das gesellschaftliche Phänomen der »Burschenschaften« wollen wir im Folgenden näher betrachten. Daran anschließend – weil eigentlich ursächlich nicht zu trennen – betrachten wir die Problematik der Entwicklung des »militärischen Eides«. Beide Erscheinungen spiegeln das gesamtgesellschaftliche Verhältnis Preußens und der anderen deutschen Ländern zum Judentum im frühen 19. Jhd. wider.
Wir sehen Clausewitz hier wohl mehr als Beobachter der Ereignisse. Inwieweit seine Stimme zur Gestaltung des »militärischen Eides« gebraucht oder gehört wurde, können wir nur erahnen, werden aber versuchen, eine Linie zu finden.