Teil X
Wir schreiben das Jahr 1812. Carl von Clausewitz hatte im März den Entschluss gefasst, die preußische Armee zu verlassen und in russische Dienste zu treten. Einige Wochen vor diesem mutigen Schritt hatte er seine »Bekenntnisschrift« – wir verwiesen bereits darauf – verfasst und abgelegt. Beides, der Übertritt in die russischen Streitkräfte und die Schrift waren eine deutliche Kampfansage an die »französische Partei« am preußischen Hof.
Diese Entscheidung war insofern von großer Bedeutung, weil Clausewitz Gefahr lief, gegen preußische Kameraden und womöglich gegen seine beiden Brüder kämpfen zu müssen, die ihrem König folgten, der mit Napoleon ein Militärbündnis eingegangen war. Diese schwerwiegende Gewissensfrage, der sich Clausewitz stellte, beurteilte Werner Halweg so:
»(…) Wenn Clausewitz sich hier gegen die Auffassung seines Königs und der preußischen Regierung entschied, so entsprang dies gewiß nicht der Neigung zu bloßem Politisieren. Er bewies vielmehr vorbildhaft durch sein Verhalten, daß die Gehorsamspflicht des Soldaten gegenüber Regierung und König dort ihre Grenzen finden kann, wo ihr Sinn auf Grund besonderer Notstände von Staat und Volk in Frage gestellt erscheint – erst Recht, wenn dies im Rahmen einer ebenso sorgfältigen wie kritischen Prüfung erhärtet wird. (…)«
(Vergl. Werner Halweg »Clausewitz Soldat – Politiker – Denker«, Musterschmidt-Verlag, 1969, S. 42 bis 43)
Wie schwer dem Mann dieser Entschluss fiel, ersehen wir aus einem Brief an seine Marie vom 28. April 1812.
»(…) So ist denn der entscheidende Schritt getan; ich bin den äußeren Anzeichen nach nicht mehr der Eurige; und das Feldzeichen, dem ich zwanzig Jahre mit Liebe und Anhänglichkeit gefolgt bin, ist mir nicht mehr erlaubt zu tragen, Eine wehmütige Empfindung hat mich doch leise angewandelt bei diesen Vorstellungen, aber sie hat mich nicht betrübt. Mein Schicksal ist in dem allgemeinen verflochten. (…)«
(Vergl. »Carl und Marie von Clausewitz – Briefe«, Otto Heuschele, H. Schaufuß-Verlag, Leipzig 1935, S.193)
Zudem drohten Clausewitz in der Heimat ein Gerichtsverfahren und die Vermögenskonfiskation. Mit dem am 2. Juli erlassenen »Edikt wegen der Auswanderung Preußischer Unterthanen und ihrer Naturalisation in fremden Staaten« – welches am 15. September 1818 wieder aufgehoben wurde – am Ende sogar die Todesstrafe. Der preußische König F. W. III. wird ihm beides nie ganz vergessen. Zumal sein Name im Zusammenhang mit der »Causa Tauroggen«, einer weiteren Insubordination eines preußischen Militärs, genannt worden war.
Unter diesen Voraussetzungen begann Carl von Clausewitz seine beschwerliche Reise. Zunächst von Berlin nach Breslau, von dort über Graudenz, Gumbinnen, Tilsit, Tauroggen nach Wilna in das Hauptquartier der russischen Truppen. Auf diesem Weg durchquerte er preußische, polnische und russische Gebiete, auf denen er etappenweise mit der Bevölkerung dieser Landstriche zusammentraf und seine Beobachtungen machte. Darüber berichtete Clausewitz seiner Frau Marie in einem Brief vom 15. Mai 1812 aus Kwaydany in Litauen:
»(…) Das ganze Leben der Polen ist, als wäre es mit zerrissenen Stricken und Lumpen zusammengebunden und zusammengehalten. Schmutzige deutsche Juden, die wie Ungeziefer in Schmutz und Elend wimmeln, sind die Patrizier des Landes. Tausendmal habe ich gedacht, wenn doch das Feuer diesen ganzen Anbau vernichten wollte, damit dieser unergründliche Schmutz von der reinlichen Flamme in reinliche Asche verwandelt würde. Das war mir immer eine wohltätige Vorstellung. Alles wimmelt hier von Juden, die sämtlich ein unverständliches Deutsch sprechen. Von der Vermehrung dieses Volkes kannst Du Dir einen Begriff machen, wenn ich Dir sage, daß ich eine Wirtin von 32 Jahren habe, die eine Tochter von 19 Jahren hat, die natürlich auch verheiratet ist. Sie heiraten im 11. Jahre und bekommen Kinder im 13.; im 40. Jahre kann also eine Frau sehr bequem Urgroßmutter sein. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clausewitz – Ein Lebensbild in Briefen und Tagebuchblättern«, Karl Linnebach, Verlag M. Warneck, Bln. 1916, S. 287)
Der Inhalt dieser Passage des Briefes ruft Betroffenheit hervor, und die Frage drängt sich auf: War unser Clausewitz ein Antisemit?
Der großartige Historiker Peter Paret(*1924; †2020), US-Soldat in WK II, schaute mit Beunruhigung auf die Passage des Briefes. Er bemerkte dazu:
»(…) Nicht so sehr die prophetische Natur dieser Aussage läßt seine Einstellung deutlich werden, als vielmehr die daraus sprechende Brutalität, die in Clausewitz´ Schriften ansonsten kaum zutage tritt und eine ausgeprägte Abneigung nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen die Polen offenbart. (…)«
(Vergl. »Clausewitz und der Staat«, Peter Paret, Dümmler-Verlag, 1993, S. 262)
Für die Beantwortung dieser Frage bitten wir noch einmal Professor Paret um Sukkurs. Bei der Vorstellung seines letzten Buches »Krieg, Geschichte, Theorie« im Mai 2019 in Burg bei Magdeburg äußerte er sinngemäß:
»(…) um historische Personen beurteilen zu können, muss berücksichtigt werden, sie lebten und wirkten in einer konkreten Zeit, unter ganz konkreten gesellschaftlichen, kulturellen und militärpolitischen Bedingungen, die wir objektiv zu würdigen haben. (…)«
Wir haben also jede Veranlassung, Clausewitz hier nicht nur zu zitieren und womöglich »den Stab über ihn zu brechen«, sondern – wie Paret anregte – objektiv zu würdigen.
Wie müssen wir den Clausewitz des Jahres 1812 verstehen? Der 32-jährige Offizier hatte bisher in zwei Kriegen kämpfen müssen. Der letzte, vor Jena und Auerstedt, endete mit einem Trauma und Gefangenschaft. Die Jahre bis zum Übertritt auf die russische Seite waren geprägt durch Turbulenzen in der Politik Preußens. Als Soldat hatte er bisher nur Landstriche im Westen Europas gesehen. Die Ostgebiete Preußens, polnische und russische vor allem, stellten eine neue Erfahrung dar. Clausewitz sah Land und Leute, die sich nicht mit seinen Erfahrungen, die er in Preußen, Elsaß-Lothringen, Österreich oder der Schweiz gewonnen hatte, deckten. Möglicherweise hatte er u. a. persönliche Erfahrungen Boyens rezipiert, wenn dieser im Kreise der Offiziere darüber gesprochen haben sollte. Wir haben darüber keine Erkenntnisse, die hier dienen könnten. Möglicherweise war Clausewitz über das, was er noch vor dem »großen Krieg« erlebte, regelrecht geschockt? Hier sah er alle Klischees über die Polen, die Russen und die Juden bedient.
Noch 113 Jahre später lesen wir bei H. Harms, in »Länderkunde von Europa«, (List & von Bressendorf, 1925), über Polen und Russland Ähnliches über Charakter und Lebensweise der Menschen in den Gebieten, durch die Clausewitz auf seinem Weg zum Zaren Alexander reiste.
Lassen wir jedoch noch einen Zeitgenossen Clausewitz´ sprechen, von dem er womöglich gehört oder gelesen haben könnte. Die Rede ist von Heinrich Heine (*1797; †1856) in »Reisebilder – Über Polen«. In seiner Reiseschilderung spricht Heine von
»(…) Den heterogensten Einflüssen war Polen dadurch ausgesetzt. Eindringende Barberei von Osten, durch die feindlichen Berührung mit Russland; eindringende Überkultur von Westen, durch die freundschaftlichen Berührungen mit Frankreich: daher jene seltsamen Mischungen von Kultur und Barberei im Charakter und im häuslichen Leben der Polen. (…)«
(Vergl. »Heinrich Heine – Reisebilder«, W. Goldmann Verlag, 1982, S. 71)
Bezeichnenderweise spricht Heine 1823 – bezugnehmend auf eine »eindringende Überkultur von Westen« – nicht von einer freundschaftlichen Berührung mit Preußen. Dazu gab es auch keine historischen Veranlassungen. Clausewitz wird 19 Jahre später letztmalig mit Polen in Berührung kommen, worauf wir hier noch zurückkommen werden.
»(…) Das Äußere des polnischen Juden ist schrecklich. Mich überläuft ein Schauder, wenn ich daran denke, wie ich hinter Meseritz zuerst ein polnisches Dorf sah, meist von Juden bewohnt. Das W‑cksche Wochenblatt, auch zu physischem Brei gekocht, hätte mich nicht so brechpulverisch anwidern können als der Anblick jener zerlumpten Schmutzgestalten; und die hochherzige Rede eines für Turnplatz und Vaterland begeisterten Tertianers hätte nicht so zerreißend meine Ohren martern können als der polnische Judenjargon. Dennoch wurde der Ekel bald verdrängt von Mitleid, nachdem ich den Zustand dieser Menschen näher betrachtete und die schweinestallartigen Löcher sah, worin sie wohnen, mauscheln, beten, schachern und – elend sind. (…)«
(Vergl. »Heinrich Heine – Reisebilder«, W. Goldmann Verlag, 1982, S. 69)
Heinrich Heine, geborener Jude, heimlich am 28. Juni 1825 getauft, mit Karl Marx befreundet, der seinen Übertritt zur evangelischen Kirche als »Entreebillet zur europäischen Kultur« betrachtete, als deutscher Dichter geliebt und gehasst und in der Restauration verfolgt, schilderte wie Clausewitz vor ihm jüdisches Leben in Polen. Wir erkennen jedoch bei Heine Mitleid mit den Menschen, die ihm begegneten. Clausewitz hingegen schreibt an seine Marie, wie oben bereits geschildert,
»(…) wenn doch das Feuer diesen ganzen Anbau vernichten wollte, damit dieser unergründliche Schmutz von der reinlichen Flamme in reinliche Asche verwandelt würde. [Paret spricht von Brutalität und Abneigung gegen Juden und Polen.] (…)«
Wie müssen wir das verstehen?
Beide, sowohl Clausewitz, der preußische Offizier, als auch Heine, der deutsch-jüdische Dichter, schildern zu unterschiedlichen Zeiten innerhalb einer Dekade in ähnlicher Art und Weise beobachtete Zustände an ähnlichen Orten. Worin besteht der Unterschied? Heine hat Mitleid, bietet aber keine Lösung an. Dazu wird der Dichter erst 1844, also rund 20 Jahre später mit dem »Weberlied« im Vormärz, ein Zeichen setzen.
Das Lied von den schlesischen Webern
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch –
Wir weben, wir weben!
Clausewitz´ Wortwahl
»(…) damit dieser unergründliche Schmutz von der reinlichen Flamme in reinliche Asche verwandelt würde. (…)«
erregt den Verdacht, dass hier Vernichtung gemeint war. Dem können wir nicht folgen! Aus unserer Sicht wollen wir das als eine metaphorische Aussage werten, in der der Ordnungssinn des preußischen Offiziers durchschlägt, nach Veränderung strebend. Wir sehen hier in dieser Hinsicht ein vergleichendes Beispiel.
Der junge Fichte, dessen Werke Clausewitz kannte, äußerte sich im Zusammenhang mit der Polemik über die Einbürgerung der preußischen Juden:
»(…) Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschlagen und andere aufzusetzen, in denen nicht eine jüdische Idee sei. (…)«
(Vergl. J. G. Fichte, »Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution«, Jena 1793, S. 101)
Der Historiker Jakob Katz (1904 bis 1998) bemerkt zu Fichtes Einlassung:
»(…) Die Bedeutung dieses Satzes liegt aber nicht im Wortsinn, sondern in dem Gedanken, den er vermittelt: Fichte will sagen, daß die Ideen in den Köpfen der Juden ein so wesentlicher Teil von ihnen sind, daß sie nur durch eine physiologische Veränderung zu ändern sei. (…)«
(Vergl. Jacob Katz »Vom Vorurteil bis zur Vernichtung – Der Antisemitismus 1700 bis 1933«, Union Verlag, 1990, S. 61)
Wir möchten hier Clausewitz die »Katz’sche Sicht« auf die Möglichkeit des Auslegens eines Wortsinnes zubilligen.
Beide Männer, Fichte und auch Clausewitz, waren nach Lage der Dinge keine Freunde der Juden. Konnten aber jeder auf seine Weise mit der Diskussion um die jüdischen Menschen und Judentum umgehen. Fichte, wie wir gesehen haben, griff regelnd in die Reden der »Tischgesellschaft« ein. Als Rektor der »Friedrich-Wilhelm-Universität« zu Berlin verteidigte er den jüdischen Studenten der Medizin, Joseph Leyser Brogi aus Posen, der unverschuldet in einen Streit mit seinem Kommilitonen August Hermann Klaatsch geriet. Nach Auseinandersetzungen mit Senat und Kultusbehörde, die die Schuld im Gegensatz zu Fichte bei Brogi sahen, trat Fichte vom Rektorat der Universität zurück.
(Vergl. »Fichtes Idee der Nation und das Judentum«, H. J .Becker, Rodopi, Studien, Bd. 14, S. 225 bis 231)
Clausewitz pflegt nach 1815 u. a. regelmäßigen Umgang mit zwei Familien, die einen jüdischen Hintergrund hatten. In seiner näheren Bekanntschaft gab es auch immer Menschen, die zum Beispiel im Salon der Rahel Levin zusammen kamen. Offensichtlich hatte Clausewitz keine Probleme, mit assimilierten Juden zu verkehren. Darin stimmte er mit Meinung und Ansicht der meisten Protagonisten in Militär und Staat überein.
(Vergl. »Clausewitz und der Staat«, Peter Paret, Dümmler-Verlag, 1993, S. 262 bis 263)