Vom hybriden Krieg zum Vernichtungskrieg
Carl von Clausewitz (*1780, †1831) beschreibt in »Vom Kriege« im sechsten Buch, im fünften Kapitel, den »Charakter der strategischen Verteidigung«.
»(…) Der Krieg ist mehr für den Verteidiger da als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbei geführt und mit ihr erst den Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend [wie Bonaparte auch stets behauptet hat*], er zöge ganz gern ruhig in unseren Staat ein; (…)«
*Man beachte hier die treffende Ironie von Clausewitz.
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 6. Buch, Kap. 5, S. 413
Si vis pacem para bellum »Wenn du [den] Frieden willst, bereite [den] Krieg vor.«, diese antike Wortwahl war Clausewitz sicherlich bekannt.
Daraus resultiert nach Clausewitz die Notwendigkeit, dass gerade der Schwache, dem ein Einmarsch droht, für den Krieg gerüstet sein sollte, um nicht überfallen zu werden. Das – so Clausewitz – will die Kriegskunst so.
Wie aktuell diese Gedanken sind, erleben wir gegenwärtig im 21. Jhd. mitten in Europa.
In den Morgenstunden des 24. Februar des Jahres 2022 überschreiten – auf Ukas des Präsidenten der Russischen Föderation – russische Streitkräfte von Norden, Osten und Süden die Staatsgrenze der souveränen Ukraine. Ohne Kriegserklärung, als »spezielle militärische Operation« deklariert, beginnt Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Staat und das Volk der Ukraine.
Bereits mit dem ersten Schuss erfährt die Welt die Kriegsziele: Es soll der Staat Ukraine demilitarisiert und entnazifiziert werden. Infolgedessen sollte nicht weniger als die Gesamtheit der gesellschaftlichen Institutionen einer gewachsenen Demokratie auf dem Territorium des ukrainischen Staates beseitigt und durch Russland genehme substituiert werden.
Dieses Ereignis hat eine Vorgeschichte, auf die ich an dieser Stelle kurz eingehen möchte. Im Jahr 2018/19 schrieb ich einen Beitrag für das »Burger Clausewitz-Jahrbuch 2019« mit dem Titel: »Die „Unsichtbaren“ – hybride Kriege im 21. Jahrhundert – und Clausewitz?«.
Gegenstand der Betrachtung waren u. a. die Ereignisse des Jahres 2014. Russland annektierte handstreichartig und völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim mit Mitteln des hybriden Krieges durch ein »Referendum unter Waffen«. Darauf folgte die ebenso völkerrechtswidrige Sezession von Teilen des Donbas im Südosten der Ukraine.
Während der Handstreich »Krim« nahezu ohne Blutvergießen gelang, erfahren wir, dass eine exzellent geführte hybride Operation der Russen dann in eine zunehmend kriegerische Auseinandersetzung mutiert, die durch den Widerstand der Angegriffenen, die sich ernsthaft zur Wehr setzten, schnell zu hohen Verlusten auf beiden Seiten führte.
Gab es auf der Krim 2014 nur einen Toten, so wuchsen im Donbas die Todesopfer bis ins Jahr 2019 auf insgesamt 12.477 an. Im Jahr 2022 zu Beginn der Kampfhandlungen waren es schon rund 14.000. Nach Erfahrungen der Kriegsgeschichte, werden die Verlustziffern in der Regel mit 1:3 – also drei Verwundete auf einen Toten – bemessen. Möglicherweise waren im dargestellten Zeitraum bereits rund 35.000 Menschen der Region verwundet, verletzt oder in einer anderen Weise in Mitleidenschaft gezogen worden.
»(…) Ist nun das Ziel des kriegerischen Aktes ein Äquivalent für den politischen Zweck, so wird er im allgemeinen mit diesem heruntergehen, und zwar um so mehr, je mehr dieser Zweck vorherrscht; und so erklärt es sich, wie ohne inneren Widerspruch es Kriege mit allen Graden von Wichtigkeit und Energie geben kann, vom Vernichtungskriege hinab bis zur bloßen bewaffneten Beobachtung. (…)«
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 1. Buch, Kap. 1, S. 26
Die Clausewitzsche Sicht der Dinge erleben wir jedoch gegenwärtig in der reziproken Variante der Ereignisse. War die »Eroberung« der Krim durch das Herbeiführen eines gewollten Chaos eine Art der »bewaffneten Beobachtung«, so führte die gewaltsame Sezession des Donbas gegenwärtig zu einem Vernichtungskrieg hin.
Nach den ersten 10 Tagen des Krieges lagen unterschiedliche Verlustziffern vor, die nicht unabhängig verifiziert werden können. Jedoch konnten es bereits Tausende sein. Bereits nach den ersten Kampftagen waren besonders bei der angreifenden russischen Armee gewichtige Abnutzungsprozesse der physischen Kräfte, der moralischen Standhaftigkeit sowie möglicherweise der ökonomischen Kräfte zu erkennen. Augenscheinlich war das deklarierte Kriegsziel der Russen – Demilitarisierung und Entnazifizierung – nicht im »Vorbeimarsch« zu realisieren.
Clausewitz beschreibt in »Vom Kriege« dieses Phänomen folgendermaßen:
»(…) Der Verlust an physischen Streitkräften ist nicht der einzige, den beide Teile im Verlauf des Gefechts erleiden, sondern auch die moralischen werden erschüttert, gebrochen und gehen zu Grunde […] Die moralischen Kräfte sind es vorzugsweise, welche hier entscheiden, und sie waren es allein in allen Fällen, wo der Sieger ebensoviel verloren hatte als der Besiegte. (…)«
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 4. Buch, Kap. 4, S. 228
Dabei war bereits in den ersten Kriegstagen die außerordentlich hohe moralische Potenz des ukrainischen Staatsvolkes und seiner Armee zu beobachten.
»(…) Ein Heer, welches in dem zerstörendsten Feuer seine gewohnten Ordnungen behält, welches niemals von einer eingebildeten Furcht geschreckt wird und der gegründeten den Raum Fuß für Fuß streitig macht, stolz im Gefühl seiner Siege, auch mitten im Verderben der Niederlage die Kraft zum Gehorsam nicht verliert, nicht die Achtung und das Zutrauen zu seinen Führern, dessen körperliche Kräfte in der Übung von Entbehrung und Anstrengung gestärkt sind wie die Muskeln eines Athleten, welches diese Anstrengungen ansieht als ein Mittel zum Siege, nicht als einen Fluch, der auf seinen Fahnen ruht, und welches an alle diese Pflichten und Tugenden durch den kurzen Katechismus einer einzigen Vorstellung erinnert wird, nämlich die Ehre seiner Waffen, – ein solches Heer ist vom kriegerischen Geiste durchdrungen. (…)«
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 3. Buch, Kap. 5, S. 170
Nun zu einigen theoretische Betrachtungen, diesen Krieg betreffend.
Die vom Präsidenten der Russischen Föderation verkündete »spezielle militärische Operation in der Ukraine» (специальная военная операция на украине 2022) erfordert eine möglichst genaue Analyse des Rechts und der Möglichkeiten internationaler Konfliktlösungen im ersten Quartal des 21. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Greift unter diesen Bedingungen die Clausewitzsche Theorie des Krieges im gegenwärtigen Gesellschaftsverständnis?
Der Ansatz hier ist der Begriff »spezielle militärische Operation«, der zunächst betrachtet werden müsste.
Der Aspekt an sich stellt schon eine Besonderheit dar, weil mit diesem Begriff ganz bewusst althergebrachte völkerrechtliche Paradigmen umgangen wurden. Russland nutzt hier die schon lange währende Orientierungslosigkeit im internationalen Recht aus, um den begonnenen Konflikt gegen die Ukraine zu verschleiern und den Begriff Krieg nicht zu benutzen.
Ähnlich wie im Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 stellt sich die Frage: Wer darf aus welchem Anlass mit welchem Ziel in einem anderen Staat mit militärischen Mitteln intervenieren.
(Vergl. »Weltpolitik im 21. Jahrhundert«, H. Oberreuter u. a., Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 145)
Folgende sieben Probleme fordern eine Bewertung im Zusammenhang mit der russischen Aggression gegen den ukrainischen Staat:
– »Krieg« oder »spezielle militärische Operation«;
– die Wirkungsweise völkerrechtlicher Verträge;
– die Rolle der Politik in den Fragen dieses Konfliktes;
– Strategie – Zweck, Ziel und Mittel dieses Krieges;
– Sinfonie von Staat und Kirche in Russland im Jahr 2022;
– Einhegung des Krieges;
– Nationalhass, Ursachen, Wirkungen, Folgen und Konsequenzen;
– Gilt der »Yamashita-Standard« auch für russische Entscheidungsträger?
Vom Phänomen »Spezielle militärische Operation« zum Krieg
Über die Sicht von Clausewitz zum Ziel und Zweck und der damit einhergehenden Varianten des Krieges war bereits weiter vorn die Rede. In seinem Werk »Vom Kriege« verzichtete Clausewitz angesichts der Komplexität der gesellschaftlichen Erscheinung »Krieg« auf eine klare, abschließende Definition desselben. Er umschreibt das so:
»(…) Wir wollen hier nicht erst in eine schwerfällige publizistische Definition des Krieges hineinsteigen, sondern uns an das Element desselben halten, an den Zweikampf. […] Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. (…)«
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 1. Buch, Kap. 1, S. 17
Hier gab Clausewitz späteren völkerrechtlichen Regelungen Raum, wie wir sie u. a. in der UN-Charta wiederfinden.
»(…) Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt. (…)«
Quelle: UN-Charta, Art. 2. Abs. 4
Es steht ganz aktuell die Fragen des liberium ius ad bellum (Recht zum Krieg) und des ius contra bellum (Krieg gegen den Krieg) zur Debatte. Somit auch der eigentliche Begriff »Krieg« in seiner »Orientierungslosigkeit« im Sprachgebrauch, wie weiter vorn schon angeführt.
Die Bundesregierung Deutschlands umschrieb noch im Jahr 2006 die Möglichkeit eines Krieges wie folgt:
»(…) Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus sind auf absehbare Zeit ihre wahrscheinlicheren Aufgaben. Sie sind strukturbestimmend und prägen maßgeblich Fähigkeiten, Führungssysteme, Verfügbarkeit und Ausrüstung der Bundeswehr. Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung unterscheiden sich hinsichtlich Intensität und Komplexität nicht von Einsätzen zur Verteidigung von Bündnispartnern. (…)«
Quelle: BMVg Weißbuch 2006, S. 67
Sie setzte damals mögliche asymmetrische Konflikte – wie in Afghanistan z. B. – und deren Bewältigung einer existentiellen Verteidigung des Nato-Bündnisses gleich, ohne dafür den Begriff Krieg auch nur in die Nähe der Erwägung desselben zu bringen. Es dauerte Jahre, bevor der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan als das bezeichnet wurde, was er war:
Ein Krieg.
Im März 2010 räumte der damalige BVM Karl Theodor von Guttenberg ein, dass man umgangssprachlich von »Krieg« in Afghanistan reden könne, an dem die Bundeswehr beteiligt sei.
Quelle: Spiegel Online. 6. April 2010
Diese überfällige völkerrechtliche Einordnung des Einsatzes der deutschen Armee sorgte für den zwingend notwendigen Rechtsschutz der deutschen Soldaten.
Angesichts des Überfalls Russlands auf seinen Nachbarstaat Ukraine am 24. Februar 2022 zögerte Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 in seiner Regierungserklärung nicht, diese Aggression als das zu bezeichnen, was sie ist: Ein Krieg.
Wieder zurück zu Clausewitz und zur Fortsetzung des weiter vorn angeführten Zitates, eine »Kriegsdefinition« betreffend.
»(…) Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. (…)«
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 1. Buch, Kap. 1, S. 17
Für Clausewitz ist also der Krieg nicht eine diffuse, nebulöse Erscheinung, sondern eine mehr oder weniger regelgerechte Aneinanderreihung von ganz konkreten Handlungen der kriegsführenden Parteien, die nie ein isolierter Akt sind.
»(…) so ist jeder der beiden Gegner dem anderen keine abstrakte Person, […] Der Krieg entsteht nicht urplötzlich; seine Verbreitung ist nicht das Werk eines Augenblicks (…)«
Quelle: Carl von Clausewitz, »Vom Kriege«, Verlag MfNV Bln., 1957, 1. Buch, Kap. 1, S. 22