Teil 3
Mit seinem väterlichen Freund Scharnhorst tauschte sich Clausewitz in der Zeit der Reformarbeit rege über den Geist des neuen preußischen Heeres aus. Scharnhorst an Clausewitz, Memel, den 27. November 1807:
»(…) so wird das neue Militär, so klein und unbedeutend es auch sein mag, in einem anderen Geiste sich seiner Bestimmung nähern und mit den Bürgern des Staates in ein näheres und innigeres Bündnis treten. (…)«
(Vergl. »Scharnhorsts Briefe«, Hg. Linnebach, Kraus Rprint, S. 333 bis 336)
Ausdruck der ungeheuren Anstrengungen der Reformer um Scharnhorst, zu denen sich Clausewitz zählen konnte, waren die Arbeiten an den Reformen der Taktik und der Ausbildung des Heeres. Herausgehoben hier als Beispiele das »Exerzier-Reglement für die Infanterie der königliche Preußischen Armee von 1812«, das »Exerzier-Reglement für die Artillerie der königlich Preußischen Armee von 1812« sowie die Vorschrift »Allgemeine Regeln zur Befolgung in den Übungen von 1810«. Ebenso wurde auch der Preußischen Kavallerie ein neues Reglement vorangestellt.
Alle Arbeiten, die teilweise mit Mühen dem König von Preußen vorgelegt und durch diesen bestätigt wurden, dienten dem schnellen Umsetzen der Schlussfolgerungen aus der Niederlage von 1806 und der kommenden bewaffneten Auseinandersetzungen mit Napoléon Bonaparte. Im Mittelpunkt der Ausbildung damals stand die Vorbereitung auf den Kampf der verbundenen Waffen mit Infanterie, Artillerie und Kavallerie. Die Truppe sollte gefechtsnah ausgebildet und die Offiziere an neue Anforderungen mit höherer Verantwortung gewöhnt werden.
(Vergl. »Scharnhorst Ausgewählte militärische Schriften«, Hg. Usczek und Gudzent, MV, 1986, S. 280 bis 299)
Clausewitz beschreibt diese Intentionen in »Vom Kriege« folgendermaßen:
»(…) Die Kriegskunst im eigentlichen Sinne wird also die Kunst sein, sich der gegebenen Mittel im Kampf zu bedienen, und wir können sie nicht besser als mit Namen Kriegsführung bezeichnen. Dagegen werden allerdings zur Kriegskunst im weiteren Sinne auch alle Tätigkeiten gehören, die um des Krieges willen da sind, also die ganze Schöpfung der Streitkräfte, d. i. Aushebung, Bewaffnung, Ausrüstung und Übung. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 2. Buch, Kap. 1, S. 88)
Militärische Tugenden, die Moral der Kämpfer, gepaart mit Enthusiasmus der Truppe – vom Heerführer bis in das letzte Glied der Linie und die Ausbildung – waren, so Clausewitz – Grundlagen des Sieges im Gefecht und der Schlacht. Streng wies er jedoch darauf hin, dass auch im Kampf Regeln und Gesetze galten und zu berücksichtigen waren.
»(…) Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden aber sind für die Theorie der Kriegsführung unentbehrliche Begriffe, insoweit sie zu positiven Lehren führt, weil in diesen die Wahrheit nur in solchen Kristallisationsformen anschießen kann. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 2. Buch, Kap. 4, S. 120)
Hier spiegelt sich offensichtlich Kants Auffassung über Gesetze, wie bereits dargestellt, zweifellos wider. Neben den »technischen« Voraussetzungen sieht Clausewitz noch einen weiteren wichtigen Komplex von Wirkungsfaktoren im Krieg.
Das sind Tapferkeit, Gewandtheit, Abhärtung, Enthusiasmus, Kühnheit, Beharrlichkeit, Überraschung sowie List. Diese allgemeingültigen Faktoren, die die moralische Potenz der gesamten Truppe determinieren, gliedert Clausewitz jedoch weiter auf. Als »unverkennbare Wahlverwandtschaften« charakterisiert er das Zusammenwirken von Regeln, Gehorsam und Ordnung, gepaart mit dem Talent des Feldherren und dem Volksgeist des Heeres unter verschiedenen Bedingungen der jeweiligen Kriegstheater.
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 3. Buch, Kap. 5, S. 169 bis 172)
Als bedeutsam kann die zuverlässige »Taktung« aller genannten Faktoren betrachtet werden. Clausewitz weist hier auf einen sehr wichtigen Zusammenhang zwischen Geist und Stimmung der Truppe hin. Dabei muss unterschieden werden zwischen Ausbildung im Frieden und Einsatz im Krieg. Wenn die Truppe im Frieden nicht annähernd das Bild eines Krieges vermittelt bekam, so wie Clausewitz das verlangte, kann die Truppe scheitern.
»(…) Besonders verwandelt sich die beste Stimmung von der Welt beim ersten Unfall nur zu leicht in Kleinmut und, man möchte sagen, in eine Art von Großsprecherei der Angst: das französische Sauve qui peut [rette sich, wer kann – Bem. Autor] Ein solches Heer vermag nur durch seinen Feldherr etwas, nichts durch sich selbst. Es muß mit doppelter Vorsicht geführt werden, bis nach und nach in Sieg und Anstrengung die Kraft in die schwere Rüstung hineinwächst. Man hüte sich also, Geist des Heeres mit Stimmung desselben zu verwechseln. [Hervorhebung durch Autor] (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 3. Buch, Kap. 5, S. 172)
Der Autor gestattet sich an dieser Stelle, ein Beispiel aus der eigenen Dienstzeit als Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons aus dem Jahr 1984 anzuführen.
Im Verlaufe einer taktischen Luftlandung während einer Übung erhielt eine Fallschirmjägergruppe während des Fluges über die »Frontlinie« die Einlage »Hubschrauber durch Beschuss getroffen«. Die Besatzung des Hubschraubers simulierte eine Notlandung in unbekanntem Gelände, und die Gruppe war zum Interagieren gezwungen. Fünf weitere Hubschrauber des Verbandes mit der handelnden Fallschirmjägerkompanie erreichten jedoch den Einsatzort, und die Kompanie – ohne eine Gruppe – erfüllte ihren Auftrag.
Die »unglückliche« Gruppe, voran ihr Gruppenführer, war von dieser Lage völlig überrascht worden und de facto handlungsunfähig. Obwohl der Platz der Notlandung nur rund 10 km vom eigentlichen Einsatzort entfernt war und die Distanz zur eigenen Truppe im Eilmarsch/Laufschritt in 1,5 bis 2 Stunden zu überwinden gewesen wäre, fiel diese Gruppe für den weiteren Verlauf dieser Übungsetappe aus. Vom Zeitfond der Lage her war diese Verzögerung eingerechnet worden, und die notgelandete Gruppe hätte an der Erfüllung des Kampfauftrages – Einnahme eines wichtigen Objektes – teilnehmen können und müssen.
Damals stießen wir auf die Problematik der Dissonanz zwischen Geist und Stimmung. Wenngleich diese Gruppe gut vorbereitet war und »in bester Stimmung« den Hubschrauber im Ausgangsraum der Luftlandung zusammen mit den anderen Kameraden bestieg, führte diese neue Lage zum völligen Ausfall der Truppe. Der Gruppenführer war nicht mehr in der Lage, seine Männer, die nun demotiviert waren, an die anderen Gruppen seiner Kompanie heranzuführen.
»(…) Hier versuchte ich damals, reale Ereignisse aus der deutschen Militärgeschichte in die Ausbildung einzuflechten. Ohne meine Quelle preiszugeben, was eine Katastrophe gewesen wäre, bezog ich mich auf ein Ereignis bei der Einnahme der belgischen Festung »Fort Eben-Emael« durch deutsche Fallschirmjäger 1940. Während dieser Operation musste ein deutscher Lastensegler weit vor dem Zielgebiet durch Beschuss notlanden. Die Fallschirmjäger erfüllten jedoch ihren Auftrag und kämpften sich im Eilmarsch mit erbeutetem Kfz an ihre Einheiten heran und nahmen am Sturm des Forts teil [Claus Bekker, »Angriffshöhe 4000«, Heyne ‑Buch, 1973, S. 89/90] (…)«
(Vergl. Tarnname »Lötzinn 750« Das Fallschirmjägerbataillon/Luftsturmregiment-40, Hg. K.-D. Krug, Eigenverlag, 2018, S. 213 bis 214 )
Clausewitz bezog sich in seinem Hauptwerk im 1. Buch, 7. Kapitel auf die sehr bedeutsame Erscheinung der Friktionen im Krieg, die die vorangegangenen Schilderungen vielleicht unterstreichen könnten.
»(…) Solange man selbst den Krieg nicht kennt, begreift man nicht, wo die Schwierigkeiten der Sache liegen, von denen immer die Rede ist, […] Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig. Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 1. Buch, Kap. 7, S. 79)
Nach Clausewitz sind die realen Friktionen das, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet. Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke (*1800; †1891), ein Zeitgenosse und formal Schüler Clausewitz´, wird später in einem Aufsatz aus dem Jahr 1871 »Über Strategie« schreiben:
»(…) Die materiellen und moralischen Folgen jedes größeren Gefechtes sind aber so weitgreifender Art, daß durch dieselben meist eine völlig veränderte Situation geschaffen wird, eine neue Basis für neue Maßregeln.
Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus. [Hervorhebung durch Autor] Nur der Laie glaubt in dem Verlauf eines Feldzuges die konsequente Durchführung eines im voraus gefassten, in allen Einzelheiten überlegten und bis ans Ende festgehaltenen, ursprünglichen Gedanke zu erblicken. (…)«
(Vergl. Moltke Militärische Werke, Hg. vom großen Generalstab, 1892 – 1912, Band II, Teilband 2, S. 291 – 293)
Ganz im Sinne Clausewitz´ betrachtete Moltke selbst die Strategie auf Grund der nicht vorhersehbaren Friktionen als ein System von Aushilfen.
(Vergl. Moltke MW, Band IV, Teilband 3, S. 1)
Moltke besuchte von 1823 bis 1826 die Allgemeine Kriegsschule, dessen Direktor zu dieser Zeit Carl von Clausewitz war. Inwieweit jedoch Clausewitz selber auf Moltke in dieser Zeit einwirken konnte, ist unklar. Clausewitz hatte als Direktor keinen Einfluss auf die Lehre an der Kriegsschule.
Der Genius, also der Geist eines Feldherren, zeichnet sich – so Clausewitz – durch die Einsicht in die Notwendigkeit aus,
»(…) daß ein jeder Krieg von Hause aus als Ganzes aufgefasst werde und daß beim ersten Schritt vorwärts der Feldherr schon das Ziel im Auge habe, wohin alle Linien laufen. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, Skizzen zum 8. Buch, Kap. 3, S. 699)
Es wäre notwendig, hier an dieser Stelle auf das Verdienst Moltkes hinzuweisen, der maßgeblich dafür sorgte, dass Clausewitz´ Theorie vom Krieg, besonders aber auch den Aspekt der moralischen Fragen betreffend, im Europa spätestens nach 1871 deutlicher rezipiert wurde. Nach den erfolgreichen Einigungskriegen …
»(…) wollte die Welt sein Geheimnis erfahren, und als Molke erklärte, das Buch, das ihn außer der Bibel und Homer am meisten beeinflußt habe, sei »Vom Kriege« gewesen, (…)«
(Vergl. »Die Kultur des Krieges«, Hg. John Keegan, Rowolt, 1997, S. 46)
Damit war der Nachruhm Clausewitz´ zunächst in Europa gesichert.