Prolog
Im Testament des Fliegerleutnants Josef Zürndorfer, gefallen 1915, fanden seine Angehörigen folgenden Eintrag:
»Ich bin als Deutscher ins Feld gezogen, um mein bedrängtes Vaterland zu schützen. Aber auch als Jude, um die volle Gleichberechtigung meiner Glaubensbrüder zu erstreiten.«
»(…) Der Historiker Golo Mann wies später darauf hin, dass es »nichts deutscheres« gegeben habe, als die jüdischen Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkrieges. Der fortwährende Kampf der deutschen Juden um Gleichberechtigung und Anerkennung in Staat und Gesellschaft hatte jedoch bereits etwas mehr als 100 Jahre zuvor mit einem Aufruf des preußischen Königs begonnen. (…)«
(Vergl. »Jüdische Soldaten – Jüdischer Widerstand in Deutschland und Frankreich, Hg. Berger, Römer-Hillebrecht, F. Schöningh, 2012, S. 89)
Dieser nunmehr wiederum über 200 Jahre zurückliegende Aufruf (»Aufruf an mein Volk« vom 17. März 1813) Friedrich Wilhelm III. soll Ausgangspunkt eines Unternehmens sein, um ein gutes Stück unserer deutschen Geschichte zu verstehen.
Anfang des Jahres 2020 stellte mir meine langjährige Partnerin (†2021), in deren Familie Opfer des Nationalsozialismus zu beklagen sind, eine erstaunliche Frage. Wissend und beobachtend, dass ich mich über lange Jahre hinweg mit Carl von Clausewitz beschäftigte, fragte sie mich:
»(…) Was hatte eigentlich Clausewitz über oder von den Juden gesagt oder geschrieben? (…)«
Diese unerwartete Fragestellung ließ mich einigermaßen überrascht zurück und gebot für geraume Zeit die Suche in mir zugänglichen Quellen. Mir waren wohl ein oder zwei Einlassungen Clausewitz‘, den Begriff »Jude« tangierend, in der Literatur schon einmal begegnet, die mich aber bis dahin nicht zu einer detaillierten Betrachtung veranlasst hatten.
Zeit meines Lebens, seit mich mein Vater zu einer militärischen Ehrung für Theodor Körner mitnahm und ich als zehnjähriger Knabe den Hauch einer großen Zeit spürte, ließ mich das Thema »Befreiungskriege 1813 bis 1815« nicht mehr los. Es war die Zeit von Clausewitz.
Während meines Studiums an der Militärakademie »Michail Wassiljewitsch Frunse« in Moskau in den Jahren 1978 bis 1982 kam ich erstmalig intensiver mit Clausewitz in Berührung. Vor und nach diesem Studium war ich – wie viele andere Offiziere der damaligen NVA – mit Clausewitz »alleine«. Hier kann ich heute eine essenzielle Grundaussage nur bestätigen. »NVA – Clausewitz fand nicht statt?« wie eine Kapitelüberschrift des Buches »Der vernachlässigte General« von Dr. Andrée Türpe lautete.
(Vergl. »Der vernachlässigte General? Das Clausewitz-Bild in der DDR«, Dr. Andrée Türpe, 2020, bei Ch. Links, S. 278 bis 282)
Daran änderte sich auch nichts, als ich in meiner letzten Dienststellung als Stabschef des Ausbildungszentrum »Carl von Clausewitz« in den Jahren 1988 bis 1990 wieder näher an Clausewitz heranrücken konnte. Meinen persönlichen Intentionen, das Erbe des großen Kriegsphilosophen betreffend, konnte ich gegenüber der politisch-ideologisch verbrämten Traditionslinie der NVA jedoch bis zum Untergang meiner Armee nicht verwirklichen.
Neben dem Impuls von meiner damaligen Partnerin bot das Jubiläum »Die 1700 Jahre alte Geschichte der Juden auf deutschem Boden« einen weiteren Anlass.
»(…) Im Jahr 2021 leben Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands: Ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin von 321 erwähnt die Kölner jüdische Gemeinde. Es gilt als ältester Beleg jüdischen Lebens in Europa nördlich der Alpen.
Die öffentlichkeitswirksame Vermittlung und die positive Akzentuierung von vielfältigem jüdischem Leben heute und der 1700-jährigen jüdischen Geschichte und Kultur auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands soll im Zentrum dieses Festjahres stehen. Zugleich gilt es, dem wiederauflebenden Antisemitismus in Europa entgegenzuwirken.
Vor allem durch die Wahrnehmung der langen Zugehörigkeit und großen Leistungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger entstehen Respekt, Anerkennung und Zugehörigkeit. Gemeinsam wollen wir deshalb das jüdische Leben heute und seine 1700-jährige Geschichte auch in Baden-Württemberg sichtbar und erlebbar machen! (…)«
(Dr. Michael Blume, Beauftragter gegen Antisemitismus des Landes Baden-Würtemberg, stm.baden-wuerttemberg.de)
Ziel der nachfolgenden besonderen Betrachtungen soll es sein, die Person des Generalmajors Carl von Clausewitz unter dem Fokus »Die Emanzipation der Juden in Preußen …« seit der Zeit der Französischen Revolution bis zum Tode Clausewitz’ 1831 darzustellen. Dieser Versuch wurde – meines Wissens – bisher noch nie öffentlich unternommen.
Hierbei soll der Mensch und Soldat Carl von Clausewitz im Spannungsfeld dieser Zeit betrachtet werden. Eine Zeit mit einem gesellschaftlichen Konflikt, dessen Lösung bis in unsere Gegenwart fortdauert.
Die Reise, die wir im Jahr 1813 an einer Königsberger Kirche mit dem fiktiven jüdischen Landwehrmann »Aaron« beginnen, möchte ich mit dem geneigten Leser gemeinsam unternehmen und dabei auch versuchen, Hintergründe, Ereignisse, Ergebnisse und Perspektiven kollektiv zu verstehen. Um diese von mir beabsichtigte Gemeinsamkeit zu veranschaulichen, wählte ich in meiner Darstellung den Pluralis Modestiae »Wir«. Inwieweit sich der Leser dem anschließt, soll jedem Einzelnem überlassen werden.
Ein Wort noch in eigener Sache, mein ungewöhnliches Vorhaben betreffend. Dazu sei es mir gestattet, Carl von Clausewitz zu zitieren:
»(…) Eigensinn ist kein Fehler des Verstandes; wir bezeichnen damit das Widerstreben gegen bessere Einsicht, und dieses kann nicht ohne Widerspruch in den Verstand als dem Vermögen der Einsicht gesetzt werden. Der Eigensinn ist ein Fehler des Gemütes. Die Unbeugsamkeit des Willens, diese Reizbarkeit gegen fremde Einrede haben ihren Grund nur in einer besonderen Art von Selbstsucht, welche höher als alles andere das Vergnügen stellt, über sich und andere nur mit eigener Geistestätigkeit zu gebieten. Wir würden es eine Art Eitelkeit nennen, wenn es nicht allerdings etwas Besseres wäre; der Eitelkeit genügt der Schein, der Eigensinn aber beruht auf dem Vergnügen an der Sache. (…)«
(Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, MFNV, 1957, Erstes Buch, 3. Kapitel, S. 66)