Teil 4
Das Wechselspiel von moralischen Größen und den physischen Kräften erscheint – so Clausewitz – am deutlichsten im Gefecht.
»(…) Das Gefecht ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, alles übrige sind nur Träger derselben. (…)
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 4. Buch, Kap. 3, S. 222)
Sehr deutlich charakterisiert Clausewitz die eigentliche Bedeutung eines Gefechts in seiner Wirkungszeit. Dieses Charakteristikum, zeitlos in der Militärgeschichte bis in unsere Tage, drückt der General und Philosoph wie folgt aus:
»(…) Jedes Gefecht ist also die blutige und zerstörende Abgleichung der Kräfte, der physischen und der moralischen. Wer am Schluß die größte Summe von beiden übrig hat, ist Sieger. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 4. Buch, Kap. 3, S. 229)
Es kann also gesagt werden, dass Carl von Clausewitz die Fragen der kriegerischen Tugenden wie Tapferkeit, Gewandtheit, Kühnheit, Beharrlichkeit, Härte und Enthusiasmus als die Grundlagen für »moralische Potenz« betrachtete. Gepaart mit den notwendigen technischen Möglichkeiten (Bewaffnung und Ausrüstung), schafft diese »Potenz« die notwendige Kampfkraft, um einen potentiellen Gegner vernichtend zu schlagen. Oder anders ausgedrückt, die Mittel zum Zweck erfolgreich einzusetzen. Hier schließt sich der Kreis zum eingangs geschilderten historischen Ereignis »Zug der Zehntausend« unter Xenophon.
Trotz scheinbar auswegloser Lage kann es gelingen, durch kluge Führung der Truppen eine hohe Einsatzmotivation zu erreichen. Ethik und Moral als philosophische Kategorien bilden so wie bei Clausewitz dafür die Grundlagen. In der Kriegsgeschichte finden sich sehr viele beachtenswerte Beispiele, die vor allem vom »Erleben« – als psychologische Kategorie – einzelner Gefechte und Schlachten zeugen. Militärhistoriker wie Keegan (»Antlitz des Krieges«) oder auch der Schriftsteller Tolstoi (»Krieg und Frieden«) zeigen – wie einige andere Schriftsteller über die Zeiten hinweg – in ihren Werken die militärische Wirklichkeit in ihrer Dramatik zu unterschiedlichen Zeiten. Bemerkenswert auch die Sicht Friedrich Engels´ zu den Fragen der Moral im bewaffneten Kampf, die er in »Die deutsche Reichsverfassungskampagne 1848/1849« 1850 darlegte.
John Keegan (*1934; †2012) schildert u. a. die physischen Umstände, denen die Soldaten aller Ebenen auf Märschen, Rasten, bei Tag und Nacht, in Gefechten und in der Schlacht ausgesetzt waren. Hier nennt er mehrere Faktoren, die auf die Psyche der Männer wirkten. Zuerst nennt er die Müdigkeit.
»(…) Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich allgemein feststellen, daß die Soldaten der meisten Heere – jedenfalls vor der Zeit des motorisierten Transports – müde in die Schlacht gegangen waren, sei es auch nur, weil sie unter der Last von Waffen und Gepäck aufs Schlachtfeld marschieren mussten.[…] Dasselbe galt für die beiden Armeen am Morgen von Waterloo. (…)«
(Vergl. »Das Antlitz des Krieges« Hg. John Keegan, Econ Verlag, 1978, S. 155)
Beide Heere, Napoléons Franzosen, aber auch die alliierten britischen und preußischen Truppen, begegneten sich am 18. Juni 1815 nach vorangegangenen Gefechten – am 16. Juni die Preußen bei Ligny, die Briten bei Quatre-Bras – auf dem Feld von Waterloo. Die Heere erreichten ihre Positionen nach Tag- und Nachtmärschen unter strömendem Regen im Zustand völliger Erschöpfung, gezeichnet von Hunger und Durst sowie im Bewusstsein, schreckliche Verluste erlitten zu haben. Dort, wo Halt eingelegt wurde, fielen die Männer – Soldat und Offizier – buchstäblich in den Schlamm und schliefen ein. Selbst die üblicherweise bei solchen Ereignissen abgehaltenen Andachten entfielen vor Erschöpfung weitestgehend, wie Keegan berichtet. Woher also die Kraft, am 18. Juni in die Linie zu treten und den Kampf erneut aufzunehmen?
»(…) Diesen Soldaten kam die Entscheidung zur Schlacht schließlich wie eine Befreiung vor, […] Will man ihre Kampfbereitschaft bewerten, dann muß man sich vor Augen halten, daß sie zum größten Teil erfahrene Krieger waren. In der Regel ist es so, daß fast jeder alte Frontsoldat lieber heute als morgen kämpfen möchte, wenn die nächste Nacht wieder kalt und feucht zu werden verspricht und die Schlacht letztlich ohnehin unvermeidlich ist. (…)«
(Vergl. »Das Antlitz des Krieges« Hg. John Keegan, Econ Verlag, 1978, S. 160 bis 161)
Weitere Faktoren, die Keegan benannte, waren der Lärm und die Sichtbeschränkung durch die Waffenwirkung der Artillerie und das unaufhörlichen Kleingewehrfeuer, dessen Schwarzpulverschwaden das Gefechtsfeld eindeckten. Zu all dem kamen noch die Schreie der Verwundeten, denen damals kaum zu helfen war. Die Dauer des Kampfgeschehens führte auch dazu, dass die Soldaten da, wo sie standen oder kämpften, in Quarees oder Kolonnen, die sie nicht verlassen durften, ihre Notdurft verbringen mussten. Letzteres waren Umstände, die sich dem Soldaten einprägten.
»(…) Zutiefst im Gedächtnis der Überlebenden hat sich der Kampf selbst eingeprägt, ihr Verhalten und das ihrer Kameraden, die Unternehmungen des Feindes und die Wirkung der Waffen, denen sie ausgesetzt waren. (…)«
(Vergl. »Das Antlitz des Krieges« Hg. John Keegan, Econ Verlag, 1978, S. 166)
Clausewitz äußerte sich zu derartigen Wirkungsfaktoren in »Vom Kriege« folgendermaßen:
»(…) Jedes Gefecht ist also die blutige und zerstörende Abgleichung der Kräfte, der physischen und der moralischen. Wer am Schluß die größte Summe von beiden übrig hat, ist der Sieger. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 4. Buch, Kap. 4, S. 229)
Im fünften Buch seines Hauptwerkes kommt der Kriegsphilosoph zu dem Schluss:
»(…) Der Mut und der Geist des Heeres haben zu allen Zeiten die physischen Kräfte multipliziert und werden es auch ferner tun; (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 5. Buch, Kap. 3, S. 295)
In seinen Skizzen zum siebenten Buch (ebenda S. 687) prägt Clausewitz den Begriff »Körperwelt«, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt und letztendlich die Kraft zum »Durchhalten« gewährleisten kann.
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (*1828; †1910) nahm in seinem monumentalen Kriegsepos direkten Bezug auf Clausewitz, der als preußischer Offizier 1812 in der russischen Armee diente und Teilnehmer an der Schlacht von Borodino (26. August jul. /7. September greg. 1812) war.

In der Handlung stellt Tolstoi einen Dialog dar, der sich – am Abend vor der Schlacht – zwischen Ludwig Freiherr von Wolzogen (*1773; †1845) und Carl von Clausewitz entspann.
»(…) Fürst Andrej sah sich um und erkannte Wolzogen, Clausewitz und einen Kosaken. Sie kamen ziemlich nahe an den beiden vorübergeritten, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen, und Pierre und Fürst Andrej hörten unwillkürlich folgende Sätze:
«Der Krieg muss im Raum verlegt werden. Der Ansicht kann ich nicht genug Preis geben», sagte der eine.
«O ja» sagte der andere, «da der Zweck ist, nur den Feind zu schwächen, so kann man gewiss nicht den Verlust der Privatpersonen in Achtung nehmen.»
«O ja» stimmt der erste zu. (…)«
(Vergl. »Krieg und Frieden«, Tolstoi, Hg. W. Bergengruen, D. Buch-Gemeinshaft Berlin, S. 1012)
Tolstoi, der offensichtlich Clausewitz gelesen hatte, bringt so dessen Ansicht über eine zweckmäßige Führung des Krieges gegen Napoléon in Russland zur Geltung. Clausewitz hatte sich in »Vom Kriege« dezidiert über die Rolle des Raumes im Krieg geäußert.
»(…) 450. Die Raumbestimmung beantwortet die Frage, wo gefochten werden soll, sowohl für das Ganze als die Teile. 451 Der Ort des Gefechts für das Ganze ist eine Strategische Bestimmung, […] 518. Die Kenntnis des Terrains wohnt vorzugsweise dem Verteidiger bei, denn nur er weiß genau und vorher, in welcher Gegend das Gefecht sein wird, und hat also Zeit, diese Gegend gehörig zu untersuchen. Hier schlägt die ganze Theorie der Stellungen, insofern sie in die Taktik gehört, Wurzel. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, Skizzen eines Planes zur Taktik oder Gefechtslehre, S. 882 und 890)
Im Weiteren lässt Tolstoi den Fürst Andrej* dessen Unverständnis über den Inhalt des Gespräches ausdrücken. Nicht ohne dessen Abneigung gegen die Deutschen im russischen Heer darzustellen, die wohl weit verbreitet war. Andrejs Familie war Opfer des Raumes geworden, der den Franzosen eingeräumt wurde.
*Andrej – Fürst Andrej Nikolajewitsch Bolkónski; (Андре́й Николаевич Болко́нский)
Obwohl Pierre** aber auch wahrscheinlich Andrej bis zum Beginn des Russlandfeldzuges Napoléon Bonaparte – wie viele junge russische Offiziere – aufgeschlossen gegenüberstanden.
**Pierre ‑Besúchow, Graf Pjotr Kirillowitsch – Freund des Fürsten Andrej; (Пётр Кириллович (Пьер) Безу́хов)
Gleich anschließend lässt Tolstoi Fürst Andrejs grundlegende Ansichten über den Krieg gegen die Franzosen sichtbar werden. Er lässt ihn zu Pierre Folgendes sagen:
»(…) »Weisst du, was ich tun würde, wenn ich zu bestimmen hätte?»[…]«Ich würde verbieten Gefangene zu machen. Wozu Gefangene? Das soll Ritterlichkeit sein. Die Franzosen haben mein Haus verwüstet und sind auf dem Weg nach Moskau, um Moskau zu verwüsten.»[…]«Sie sind meine Feinde, sie sind für mich ohne Ausnahme Verbrecher.»[…] «Keine «Gefangenen machen» fuhr Fürst Andrej fort, «das wäre das einzige, was dem ganzen Kriege ein anderes Gesicht und ihm einen Teil seiner Grausamkeit nehmen könnte.» (…)«
(Vergl. »Krieg und Frieden«, Tolstoi, Hg. W. Bergengruen, D. Buch-Gemeinshaft Berlin, S. 1012 bis 1013)
An dieser Stelle berührt Tolstoi über seinen Romanhelden Fürst Andrej die Clausewitz’sche Auffassung über den Krieg an sich. Diese war so definiert wie bereits weiter vorne dargestellt, »Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.« Allerdings schloss Clausewitz eine Enthegung des Kampfes definitiv – bei aller Härte – aus.