Teil VI
Zur »rassistisch motivierten Judenfeindschaft«
Bereits im ersten Teil unserer Betrachtung erwähnten wir:
»(…) Das Banner „Liberté, Egalité, Fraternité“ wirkte auch in Preußen auf das Bewusstsein, für gleiche Rechte und Pflichten aller Bürger des Landes einzutreten. (…)«
In Preußen wirkte dieser Impuls in vielfältiger Weise in fast allen Schichten der damaligen Bevölkerung und somit auch in der jüdischen Gemeinschaft des Landes. Besonders in Berlin entwickelte sich eine intellektuelle Basis, die geprägt war vom früheren Wirken Moses Mendelssons (*1729; †1786) und Gotthold Ephraim Lessings (*1729; †1781). Lessings Schauspiel »Nathan der Weise« von 1783 war, wie er selber formulierte,
»(…) das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muß, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. (…)«
(Lessing, Gotthold Ephraim – Werke und Briefe, 12 Bände, Hg. W. Barner, Frankfurt am Main, Bd. 1, S. 1152)
Der preußische Staatsrat Christian Wilhelm von Dohm (*1751; †1820), ein Freund Mendelssohns, griff die Bemühungen der jüdischen Bewegung der »Haskala« (mit Hilfe des Verstandes aufklären) auf und trat für die gleichberechtigte Stellung der Juden in Preußen ein. 1781 erschien sein Buch »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden«.
»(…) Ähnlich wie schon Lessing vor ihm erklärte er die elende soziale Lage der Juden nicht aus irgendwelchen natürlichen Anlagen oder religiösen Gebräuchen, sondern vielmehr aus der jahrhundertelangen Unterdrückung durch die christliche Umwelt. (…)«
(Vergl. Der Deutsche Weg der Judenemanzipation 1789 – 1938, Walter Grab, Piper/Zürich, S. 13)
Mit der französischen Revolution ergab sich auch in Preußen die Möglichkeit, Veränderungen herbeizuführen, nachdem die französischen Juden 1790 durch die Nationalversammlung die Bürgerrechte erhalten haben. Diese wurden aber 1808 durch das berüchtigte »décret infâme« (»Schanddekret«) Napoleons in Teilen wieder eingeschränkt.
Jedoch wurde mit dem »Consistore central israélite« (Zentralisraelitisches Konsistorium) am 17. März 1808 gleichzeitig eine Art Status, ähnlich den Kirchen in Frankreich, eingerichtet. Der übrigens auch für die deutschen Landesteile galt, die im Zuge der napoleonischen Kriege zeitweise besetzt waren. In Frankreich war dieses Konsistorium bis 1905 in Kraft.
In Preußen entwickelte sich dieser Prozess wesentlich langsamer. Er bekam aber nach 1806 den entsprechenden Schub unter der napoleonische Besetzung. Durch die 1808 eingeführte Reform der Städteordnung wurden Juden bereits Bürger ihrer Stadt. Das dann am 11. März 1812 erlassene »Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate« durch F. W. III. gewährte allerdings nicht allen Juden gleiche Rechte. Die seither privilegierten Juden, mit General-Privilegien versehenen, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen wurden mit ihren Familien »Staatsbürger«. Besitzlose Juden blieben wie bisher »Ausländer«.
Unter diesen scheinbar »revolutionären« Bedingungen, die eigentlich den Progress in Preußen hätten bringen können, verwundert es sehr, dass sich ausgerechnet in der intellektuellen Schicht Preußens eine judenfeindliche Strömung verankern konnte. Die Metastasen dieser religiösen Judenfeindlichkeit entwickelten sich nach 1815 hin zum »Frühantisemitismus«, der lange Schatten bis in das 20. Jhd. warf. Emanzipationsgegner waren noch vor den Kriegen 1813/14/15 zahlreich vertreten, wie wir bereits sehen konnten. Allerdings stellte das
»(…) keine politische Bewegung und noch keine geschlossene Weltanschauung (…)«
dar,
(Vergl. »Frühantisemitismus« – Bergmann, Berlin 2010, S.96 bis 99)
sondern äußerte sich in einem romantischen Nationalismus, wie Fichte ihn in seinen »Reden an die deutsche Nation« vertrat. Dieser Nationalismus war nicht frei von Judenfeindlichkeit, wie wir weiter noch sehen werden.
Ausdruck dieses sich verwandelnden gesellschaftlichen Klimas, das wir nach 1806 beobachten, waren die Gründungen verschiedener Vereine, die sich in welcher Form auch immer politisch betätigten. Eine Vereinigung war der sogenannte »Tugend-Bund«, der sich in Königsberg im Frühjahr 1808 bildete und im Verlaufe seiner zeitlich begrenzten Existenz über das ganze Restpreußen verteilt wirkte. Dieser Bund, der sich auch »Gesellschaft zur Uebung öfffentlicher Tugenden« nannte, wurde durch Kabinetts-Bescheid F. W. III. vom 30. Juni 1808 sanktioniert. Die Genehmigung des Königs enthielt Lob für das Ansinnen, aber auch vorauseilenden Tadel mit Drohung und Konsequenzen, eingedenk der Zweifel S. M. an dieser ungewöhnliche Vereinigung. Die führenden Köpfe des Vereins, F. G. Lehmann, F. W. Mosqua, K. A. von Bardeleben, L. von Baczko und Traugott Krug konnten sich der Fürsprache des Cabinets-Rath Beyme erfreuen, der ihnen schrieb:
»(…) Die Idee einer patriotischen Privatvereinigung zur Tugendübung gereicht Ihrem Herzen zur Ehre (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850, S. 5 /Reprint)
Gleichzeitig gab Beyme die Empfehlung, sich mit diesem Anliegen an Staats-Minister Exzellenz Freiherr von Stein zu wenden. Stein schwieg dazu einige Wochen. Danach erhielt Mosqua jedoch die entsprechende Ordre F. W. III., worin es u. a. hieß:
»(…) Dies eröffnen Allerhöchstdieselben den Vorstehern des Vereins, Lehmann, von Both, Velhagen, Chiffland und Bardeleben auf ihre Eingabe vom 18. d. M., in Erwartung, daß sie jede Ausartung der Gesellschaft, welche sogleich ihre Auflösung herbeiführen würde, vermeiden werden und haben Sie ein Verzeichnis ihrer Mitglieder nicht allein jetzt, sondern auch vierteljährlich einzureichen. Königsberg, den 30. Juni 1808. Friedrich Wilhelm. (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850 S. 13/14, Reprint)
Nach einem guten Jahr erhielt der König wiederum eine Mitgliederliste, wonach am 5. April 1809 334 Männer verzeichnet waren.
»(…) man fand darunter besonders viele Militärs, aber auch Professoren, Lehrer an Schulen, städtische Magistratspersonen, Regierungs- und Justizbeamte, Kaufleute, Gutsbesitzer u. A. Und wie kein Stand ausgeschlossen war, so sah man hier die drei christlichen Haupt-Confessionen zu Einem Zweck vereinigt, neben Lutheranern Katholiken und Reformierte. Juden dagegen hatten zum Verein keinen Zutritt. (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850 S. 38 /Reprint)
In der hier vorliegenden kurzen Geschichte des »Tugendbundes« sehen wir unter den Mitgliedern u. a. die Namen Major von Boyen und Major von Grolman, die in der MRK (Militär Reform Kommission) unter Scharnhorst arbeiteten. Insgesamt war aber die Werbung von Mitgliedern bereits ein Jahr nach Gründung rückläufig, was u. a. so begründet wurde:
»(…) Der Grund mochte zum Theil auch mit darin liegen, daß hie und da Versuche dieser Art erfolglos geblieben waren, z. B. die Bemühungen zur Aufnahme Gneisenaus, Scharnhorsts, Delbrücks, Hüllmanns u. A. (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850 S. 39 /Reprint)
Wir haben hier also gesehen, Juden war der Zutritt zum »Tugendverein« der Jahre 1808/09 nicht gestattet. Scharnhorst und Gneisenau hielten sich wohl aus taktischen Gründen fern, tolerierten jedoch die Mitgliedschaft von Boyen und Grolman und damit auch den Bund. Den Namen Carl von Clausewitz lesen wir nicht. Wie weiter oben bereits dargestellt, äußerte er in einem Brief an Marie seine Abneigung gegen jegliche »Geheimbünde«. Das traf jedoch nicht zu, da von allerhöchster Seite durch des Königs Hand genehmigt. Hier hielt sich Clausewitz wohl an die Linie seines Lehrers und Vorgesetzten Scharnhorst. Ob die Maßregelungen – die Religionen betreffend – Billigung oder Ablehnung Clausewitz´ erfahren haben, wissen wir nicht.
Zum Bund selbst äußerte sich Clausewitz in seiner Schrift »Über das Leben und den Charakter von Scharnhorst« ablehnend, wie schon angemerkt, auch weil nach seiner Meinung Scharnhorst in Verdacht geraten war, gegen den König zu arbeiten. Er dokumentierte jedoch auch die Zustimmung Scharnhorst´ für diese Unternehmung.
»(…) General Scharnhorst machte den König darauf aufmerksam und war der Meinung, daß die gute Absicht und das Gefühl dieser Partei Achtung verdiene, daß sie auch nützlich werden könne[…], und daß es in jedem Falle klug sei, sie auf diese Weise im Auge zu behalten. (…)«
(Vergl. »Über das Leben und den Charakter von Scharnhorst«, I. Notiz über die Lebensumstände von Scharnhorst, Junker und Dünnhaupt Verlag , Berlin, Hg. E. Kessel, S. 23)
Zum Zeitpunkt 1808 bis 1809 lässt sich aus Quellen zu diesem Zusammenhang keine deutliche Meinung der Offiziere und Reformer um Scharnhorst, Juden betreffend, erkennen. Tatsache ist aber, Boyen und Grolman waren Mitglieder in einem Tugendverein, der Juden abwies. Auf Boyens persönliche Sicht zu den Juden werden wir später noch zurückkommen.
Für uns sind hier noch die Wirkungskreise des Vereines interessant, die verfolgt werden sollten. Bei Voigt lesen wir, dass es insgesamt fünf große Bereiche geben sollte:
Das »Fach der Erziehung«,
das »Fach der Volksbildung«,
das »Fach für Wissenschaft und Kunst«,
das »Fach für Volkswohlstand« und
das »Fach für äußere Polizei«.
Unser Augenmerk liegt hier besonders auf dem Fach der Volksbildung, da es unter diesem eine »Nebenabtheilung des Geschäftszweiges« geben sollte.
»(…) Eine Nebenabtheilung dieses Geschäftszweiges sollten die zum Verein gehörigen Mitglieder des Militärstandes bilden. Ihr Geschäft sollte sein theils gemeinschaftliche Ergründung der Kriegswissenschaft nach ihrem ganzen Umfange, theils Einwirkung sowohl auf Fortbildung junger Officiere in Wissenschaft und Sittlichkeit. […] man gab dieser Abtheilung den Namen Militär-Institut (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850 S. 67/68, Reprint)
Es ist anzunehmen, dass besonders Hermann von Boyen sich dieser Idee widmete. Die Ausbildung der Soldaten und vor allem der Offiziere lag Boyen zeitlebens am Herzen. In den Erinnerungen Boyens lesen wir, dass er die Schulung des Offizierskorps als seine Aufgabe im »Tugendbund« betrachtete.
(Vergl. Boyen Erinnerungen, Bd. 1, S. 250)
Der Aufbau des Bundes war sehr kompliziert, verzweigt in seiner Organisation und Verwaltungsstruktur, mit Räten und Kammern. Da die Tätigkeit der Fachbereiche nicht öffentlich kommuniziert wurde, wuchs in den preußischen Departements das Misstrauen und rief ernsthafte Gegner, wohl auch Napoléon, auf den Plan. Der »Schill´sche Zug« 1809 erregte den Verdacht, dass sich Mitglieder des Bundes diesem angeschlossen hätten. Das traf nach Lage der Dinge auf den Lieutenant Baersch (*1778; †1866) zu. Dem Grafen von Krockow (*1767; †1821) warf man Konspiration vor.
»(…) Man schloß sofort auch diese drei Männer von dem Verein aus. (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850 S. 91 /Reprint)
Dabei war der unglücklich Schill lediglich ein Sympathisant des Bundes. Diese und andere Merkwürdigkeiten führten dann bereits am 31. Dezember 1809 zur Auflösung des Vereins. Prinz Hermann von Hohenzollern-Hechingen, damals Major in Preußischem Dienst und Mitglied, hatte die undankbare Aufgabe, den Tugend-Bund zu liquidieren.
»(…) Der König erließ an den Prinzen von Hohenzollern folgendes Kabinet-Schreiben: Mein Herr Prinz! Ich benachrichtige Sie, daß ich für gut gefunden habe, den sittlich-wissenschaftlichen Verein nach dem Wunsche mehrerer Mitglieder desselben ohne alles öffentliche Aufsehen, aber vollständig aufzulösen, und habe hiernach die betreffenden Ministerien und der Justiz mit Befehl und Instruction versehen, so daß diese auch sämtliche Papiere des Vereins in Empfang nehmen lassen werden. Ich verbleibe Berlin, den 31. December 1809 Ihr wohlaffectioniter Friedrich Wilhelm. (…)«
(Vergl. »Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins« – Johannes Voigt – Berlin Verlag der Deckerschen Geheimen Ober-Hofdruckerei 1850 S. 105/106, Reprint)
Nachfolgend lesen wir dort die genauen Maßregelungen an die Staatsminister Graf zu Dohna und Großkanzler Beyme zur vollständigen Auflösung des Bundes.
In seinen Erinnerungen schätzte Boyen am 24. März 1835 die Wirksamkeit des Tugend-Bundes ein:
»(…) Wenn man die eigentliche Wirksamkeit dieses Vereins nach dem Abriß, so weit ich ihn hier geben konnte, zusammennimmt, so muß man sich sagen, daß sie nicht groß war; ja ma könnte sogar bei dem Haß, den sie bei der Gegenpartei aufregte, für Augenblicke über den Nutzen einer derartigen Verbindung zweifelhaft werden. (…)«
(Vergl. »Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Herman von Boyen«, Hg. D. Schmidt, Brdg. Verlagshaus, Bd.1, S. 250)
Genugtuend stellte der tapfere Boyen aber auch fest:
»(…) und daß die beinahe ans Komische grenzende Furcht, welche die französischen Behörden fortdauernd gegen den Tugendbund und seine Mitglieder aussprachen, eigentlich die schönste Lobrede über die damalige Nützlichkeit des Vereins ist; (…)«
(Vergl. »Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Herman von Boyen«, Hg. D. Schmidt, Brdg. Verlagshaus, Bd.1, S. 250)
Der General und vormalige Militärreformer des Jahres 1835, Ludwig Leopold Gottlieb Hermann von Boyen, spricht hier unbewusst über eine kognitive Dissonanz, die ihn in der Erinnerung bewegt. Wünsche und Absichten der Reformer standen 1808/09 noch im Widerspruch mit den zu dieser Zeit bestehenden Zielen und den Möglichkeiten, diese zu erreichen. Zu Boyens Sicht auf die Juden Preußens werden wir in unserer Abhandlung, wie bereits erwähnt, später noch einmal zurückkommen.