Teil XI
Die patriotische Stimmung im Jahr 1813 erfasste viele Juden in Preußen, die nun zur Fahne eilten. Sie dachten, dass ihre Sache zum Durchbruch gelangt war. Gemäß des § 16 des weiter oben geschilderten »Emanzipationsedikts« hegte niemand mehr Zweifel an der Militärpflicht preußischer Juden. Darin hieß es:
»(…) Der Militair-Konscription oder Kantonspflichtig und den damit in Verbindung stehenden besonderen gesetzlichen Vorschriften sind die einländischen Juden gleichfalls unterworfen. Die Art und Weise der Anwendung dieser Verpflichtung auf sie wird durch die Verordnung wegen der Militair – Konscription näher bestimmt werden. (…)«
(Vergl. »Preußische Gesetzsammlung 1812«, S. 17 f., Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 1, Verlag Kohlhammer)
Zu den Freiwilligen gehörte u. a. auch der Dichter Friedrich Baron de la Motte-Foqué (*1777; †1843
Im Juli 1813 schreibt de la Motte-Foqué, einer altadligen französischen Hugenottenfamilie aus Brandenburg an der Havel entstammend, an seinen jüdischen Freund und Verleger Julius Eduard Hitzig (ursprünglich Isaac Elias Itzig):
»(…) Du hast in den Zeitungen, mein theurer Freund, den Aufruf unseres lieben Königs gelesen, und gewiß auch gewußt, was ich thun würde: So ist es denn! In zehn bis zwölf Tagen längstens, sobald ich nur uniformiert und beritten bin – an den Waffen weißt du, ist bereits ein guter Vorrat da – gehe ich nach Breslau. (…)«
(Vergl. »Motte-Fouqué, Friedrich Baron de la: Gedichte vor und während dem Kriege«, Als Manuskript für Freunde, 2. Auflage, Berlin 1814)
De la Motte-Fouqué kämpfte in den Befreiungskriegen, war Teilnehmer der Völkerschlacht bei Leipzig und ging 1815 als Major vom preußischen Heer ab.
Wir kennen des Barons Lied aus der Schulzeit: »Frisch auf, zum fröhlichen Jagen, //Es ist nun an der Zeit;«
Kriegslied für die freiwilligen Jäger, 1813
(Quelle: https://berühmte-zitate.de/zitate/2010625-friedrich-de-la-motte-fouque-frisch-auf-zum-frohlichen-jagen-es-ist-nun-an/)
Eine Kabinettsorder vom 9. Februar 1813 hob sämtliche Ausnahmen von der Dienstpflicht im Heer auf. Der jüdische Magdeburger Prof. Dr. Martin Philippson (*1846; †1916), der als Freiwilliger im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kämpfte, verfasste den Aufsatz »Der Anteil der jüdischen Freiwilligen an dem Befreiungskrieg 1813 und 1814«. In der Schrift »Die jüdischen Freiwilligen im preußischen Heere während der Befreiungskriege 1813/1814« schildert er Beispiele, wie trotz Kabinetts-Order des Königs die Aufnahme jüdischer Männer mit Problemen behaftet war.
»(…) Erst die Kabinettsorder vom 9. Februar 1813 hob sämtliche Ausnahmen von der Dienstpflicht im Heere auf. Trotzdem erschien es selbst hochstehenden Beamten ganz seltsam, daß auch die Juden mit dieser Vorschrift gemeint seien. Noch am 1. April 1813 — also sieben Wochen nach der letzterwähnten Kabinettsordre — trug der Staatsrat Lecoq bei der kurmärkischen Regierung an, „ob nicht die Jüngliche des jüdischen Glaubens von siebzehn bis vierundzwanzig Jahren mit zur Rekrutierung gezogen werden können?“ (…)«
(»Im Deutschen Reich«, Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, XII. Jahrg. Berlin, Prof. Dr. Martin Philippson, Juli/August 1906 Nr. 7/8, S. 408)
Philippson erwähnt die herausragende historische Bedeutung dieser Erscheinung des Jahres 1813. Er verweist darauf, dass seit mehr als ein Jahrtausend Juden nicht mehr gedient hatten. Nicht ohne Stolz schreibt er:
»(…) Unter solchen Umständen ist es höchlichst anerkennenswert, daß Hunderte von „Jünglingen des jüdischen Glaubens“ Aushebungen und Zwang nicht abwarteten, sondern freiwillig auf den ersten Ruf des Königs und Vaterlandes zu den Waffen eilten. (…)«
(»Im Deutschen Reich«, Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, XII. Jahrg. Berlin, Prof. Dr. Martin Philippson, Juli/August 1906 Nr. 7/8, S. 409)
Nachfolgend lesen wir noch die Bemerkung, dass vorrangig die Söhne der wohlhabenden jüdischen Familien freiwillig vorangingen und mit Ausdauer und Treue wie die anderen Staatsbürger »fochten und bluteten«.
Philippson schildert auch den großen Anteil und die Mühen der jüdischen Gemeinschaften, sich für das nunmehrige Vaterland einzubringen. An dieser Stelle wird Staatskanzler Fürst Hardenberg zitiert, der am 4. Januar 1815 schrieb:
»(…) Auch hat die Geschichte unseres letzten Krieges wider Frankreich bereits erwiesen, daß die Juden des Staates, der sie in seinen Schoß aufgenommen, durch treue Anhänglichkeit würdig geworden. Die jungen Männer jüdischen Glaubens sind die Waffengefährten ihrer christlichen Mitbürger geworden, und wir haben auch unter ihnen Beispiele des wahren Heldenmuts und der rühmlichen Verachtung der Kriegsgefahren aufzuweisen, sowie die übrigen jüdischen Einwohner, namentlich auch die Frauen, in Aufopferung jeder Art den letzteren sich angeschlossen haben. (…)«
(»Im Deutschen Reich«, Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, XII. Jahrg. Berlin, Prof. Dr. Martin Philippson, Juli/August 1906 Nr.7/8, S. 411)
Weiter zitiert Philippson Rahel Varnhagen von Ense. Die berühmte Salonnière jüdischer Herkunft schrieb am 20. April 1813:
»(…) Die Juden geben alles, was sie nur besitzen. (…)«
(»Im Deutschen Reich«, Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, XII. Jahrg. Berlin, Prof. Dr. Martin Philippson, Juli/August 1906 Nr.7/8, S. 411)
Nachfolgend lesen wir von erheblichen Geldspenden jüdischer Kaufleute. Auch von bemerkenswerten Frauen.
»(…) Frau Bankier Beer erhielt für ihre Verdienste um die Pflege der Verwundeten den Louisenorden, wobei ihr der König, um der Jüdin kein Kreuz zu geben dieses durch eine Medaille ersetzte. (…)«
(»Im Deutschen Reich«, Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, XII. Jahrg. Berlin, Prof. Dr. Martin Philippson, Juli/August 1906 Nr.7/8, S. 411)
Wir beachten hier die Haltung des preußischen Monarchen zu seinen neuen Staatsbürgern, die jedoch nur temporär war.
In der weiteren Aufzählung werden einige jüdische Frauen und Männer erwähnt, die für ihren Einsatz durch S. M. F. W. III. hoch dekoriert worden sind.
An dieser Stelle wollen wir noch mit einem Zitat aus dem Aufsatz Philippsons besondere jüdische Menschen aus der Zeit der Befreiungskriege darstellen:
»(…) Mit Recht bemerkt also der Christ Buchholz: „Tatsache ist es, daß jüdische Aerzte und Wundärzte ihr Leben den Gefahren der Hospitäler aussetzten und als heilige Opfer fielen. Tatsache ist es, daß jüdische Frauen und Mädchen keine Anstrengungen, keine Gefahren scheuten, um den Verwundeten Trost und Hilfe angedeihen zu lassen. Tatsache ist es endlich, daß alle israelitischen Bürger durch die zahlreichsten freiwilligen Geldopfer Beweise der Anhänglichkeit an König und Vaterland gaben.“(…)«
(»Im Deutschen Reich«, Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, XII. Jahrg. Berlin, Prof. Dr. Martin Philippson, Juli/August 1906, Nr.7/8, S. 412)
Preußische Militärärzte folgten mit ihren Helfern den kämpfenden Linien mit »fliegenden Ambulanzen« und versorgten Verwundete trotz Einwirkung des Feuers der Musketen und der Artillerie des Gegners. Geriet ein Bataillon unter Angriff gegnerischer Kavallerie, operierten die Ärzte inmitten des gebildeten Quarees. Sie hatten durch den französischen Militärarzt Dominique Jean Larrey gehört, dass es wichtig war, zuerst Blutungen zu stillen und übernahmen das System der Triage. Ärzte und Helfer starben auch in den Lazaretten an Fleckfieber, Typhus, Läusefieber und anderen Krankheiten, die unter den Verwundeten grassierten. Auch die preußischen Chirurgi mussten aus der Niederlage von 1806 lernen. Im »Ortelsburger Publicandum«* des Königs vom 1.12.1806 stand geschrieben:
»(…) Um aber ähnliche Pflicht-Vergessenheiten für die Zukunft vorzubeugen haben Seine Königl. Majestät folgende Beschlüsse gefasst: […] 5. Die Regiments- und Compangnie-Chirurgen müssen sich am Tage des Gefechts in der Nähe ihrer Corps aufhalten, und mit allem Nöthigen versehen seyn; thun sie ersteres nicht, werden sie fortgejagt. (…)«
(Vergl. epoche-napoleon.net, *Publicandum wegen Abstellung verschiedener Mißbräuche bei der Armee.)
Ein weiteres beeindruckendes Beispiel bietet hier die Lebensgeschichte des jüdischen Studenten Meno Burg (1788 bis 1853). Burg meldete sich bereits am 14. Februar 1813, also fünf Tage nach dem o. g. Aufruf, zum Militärdienst. 1818 wurde er Lehrer für Artillerie-Zeichnen und Mathematik an der »Berliner Artillerie-Ingenieurschule«. 1853 starb er als hochdekorierter Stabsoffizier, der sich unablässig zu seiner jüdischen Herkunft bekannt hatte. An seiner Beerdigung sollen 60.000 Berliner Anteil genommen haben. Er war Autor des zweiteiligen Buches »Die geometrische Zeichenkunst«, welches sich mit dem Artilleriewesen der damaligen Zeit befasste.
(Verl. »Geschichte meines Dienstlebens«, Hg. Hermann Simon, Hentrich & Hentrich 1998, aus dem Geleitwort)
In seinen Erinnerungen lesen wir:
(Verl. »Geschichte meines Dienstlebens«“, Hg. Hermann Simon, Hentrich & Hentrich 1998, S. 12)
Diese Schilderung erinnert uns anschaulich an das eingangs vorgestellte Bild, welches den Auszug der ostpreußischen Landwehr darstellt. Aufschlussreich auch dazu eine Anmerkung in o. g. Biographie, die erläutert, warum unser Aaron erst zu den Landwehrmännern tritt, nachdem diese die Kirche verlassen, worin sie durch einen Pfarrer eingesegnet wurden:
»(…) Auf Befehl des Königs wurden an einem Tag in Breslau alle jüdischen Freiwilligen, deren Anzahl wahrlich nicht gering war, in die Synagoge geführt, wo nach einem einleitenden Gottesdienst der dortige Rabbiner sie einsegnete und feierlich ermahnte, ihre Pflichten als Soldaten treu und mit Aufopferung zu erfüllen, sie aufforderte, sich brav zu halten, tapfer für König und Vaterland zu streiten und ihren heiligen Glauben fest zu bewahren. Er entband sie, nicht kraft seines Amtes, sondern kraft der zitierten Satzung der heiligen Schrift, während der Dauer ihrer Dienstzeit von allen Zeremonialgesetzen, legte ihnen aber ans Herz, täglich zweimal das Glaubensbekenntnis der Juden „Höre Israel“ usw. zu sagen. (…)«
(Verl. »Geschichte meines Dienstlebens«, Hg.. Hermann Simon, Hentrich & Hentrich 1998, s. 16*)
Christlich konskribierte Männer Preußens legten eine Treueverpflichtung nach der von Stein 1808 eingeführten »Formul des Soldaten-Eides« ab. Nicht selten geschah das bei der Landwehr und den Freiwilligen in Kirchen. Auch hier erfolgte die Einbindung des Soldaten an den Monarchen auf Grund seiner staatsbürgerlichen Untertanenpflicht.*** An der Verlesung der »Kriegsartikel« nahmen christliche und jüdische Rekruten geschlossen teil.
Der Weg des Major Burg, Stabsoffizier jüdischer Herkunft im preußischen Heer, war steinig und mit Hindernissen gepflastert. Ein Major von Alvensleben befahl dem Rekruten Burg die Truppe zu verlassen, nachdem dieser erfahren hatte, dass Burg Jude war. Aber dank der Fürsprache von Prinz August von Preußen, dem Carl von Clausewitz als Adjutant diente und in die französische Gefangenschaft begleitete, wurde Meno Burg als Bombardier rekrutiert. Auch im weiteren Dienst stieß der Kriegsfreiwillige immer wieder auf Ablehnung und Ressentiments. Immer wieder traf er aber auch verständnisvolle Vorgesetzte, wie eben den Prinzen August, dem Burg Humanität und religiöse Unvoreingenommenheit bescheinigte. Nach Burgs Meinung förderte der Prinz seine ganze Laufbahn als Offizier.
(Verl. »Geschichte meines Dienstlebens«, Hg. Hermann Simon, Hentrich & Hentrich 1998, aus dem Geleitwort)
Uns begegneten hier in dieser Zeit zwei Angehörige der preußischen Königsfamilie, die zumindest in der Zeit von 1813 bis 1815 formal den jüdischen Staatsbürger anerkannten. Vielleicht, weil sie in der Zeit höchster Gefahr spürten, dass althergebrachte Meinungen über Juden kontraproduktiv hätten sein können. Die Frage, die sich uns stellt: War dieser gesellschaftspolitische »Status quo« der Jahre 1813 bis 1815 konsistent?
Wir dürfen erstaunt sein, denn S. M. war noch im Jahr 1811 unentschlossen, und unter dieser Eigenschaft hatten vor allem die führenden Reformer zu leiden. Gneisenau schrieb unter dem 26. April 1811 ziemlich frustriert an v. Stein, nachdem der Fortgang notwendiger Reformvorhaben nicht vorwärts ging. Auf Grund von unbeliebten Steuervorhaben schien der notwendige Patriotismus abhanden gekommen.
»(…) Der König steht noch immer neben dem Trohn, worauf er nie gesessen hat, und ist immer Rezensent desselben und derer, die auf dessen Stufen stehen. An dieser Individualität wird ewig jeder Gehülfe scheitern, der, Staatsmann im höheren Sinn, erhabene Anordnungen zu machen gedenkt. Bei den jetzigen neuen Finanzeinrichtungen indessen lässt er seine Räte frei schalten, obgleich er darüber bereits mißbilligend sich vernehmen lassen. Im Militärwesen hingegen sowie in den auswärtigen Verhältnissen behauptet er noch immer seine ungeheure negative Stärke und wirkt entmannend auf diejenigen, die gute Ratschläge erteilen. Übrigens ist er schlechter als je umgeben, und wir haben nicht einmal die Aussicht, ein Agnes Sorel zu erhalten. (…)«
(Vergl. »Gneisenau. Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, 1939, S. 163)
Heinrich von Treitschke (1834 bis 1896), deutscher Historiker, politischer Publizist und Mitglied des Reichstags von 1871 bis 1884, stellte dazu fest:»(…) Seit dem 17. März traten auch die breiten Massen des Volkes in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte kriegerische Leistung möglich, welche die Geschichte von gesitteten Nationen kennt. Dies verarmte kleine Volk verstärkte die 46 000 Mann der alten Linienarmee durch 95 000 Rekruten und stellte außerdem über 10 000 freiwillige Jäger, sowie 120 000 Mann Landwehr, zusammen 271 000 Mann, einen Soldaten auf siebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frankreich einst unter dem Drucke der Schreckensherrschaft aufgeboten hatte. (…)«(Vergl. Heinrich von Treitschke »Deutsche Geschichte«, Bd.1, A.Krömer Verlag – Leipzig, Hg. H. Heffter, S. 285)
Wir schauen hier auf die wichtigsten Ereignisse des Jahres 1813:
– Im April rücken die Alliierten Truppen vor Leipzig;
– Nach der Schlacht von Großgörschen am 2. Mai ziehen sich Russen und Preußen auf Dresden zurück;
– Napoleon siegt in der Schlacht bei Bautzen;
– Der Waffenstillstand von Pläswitz vom 4. Juni;
– Mit der »Reichenbacher Konvention« vom 27. Juni wechselt Österreich in das Lager der Alliierten;
– In der Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober wird Napoleon geschlagen;
– 31. Dezember 1813, Blücher überquert bei Kaub den Rhein.
(Vergl. »Karl und Marie von Clausewitz«, Ein Lebensbildnis in Briefen und Tageblättern von Karl Linnebach, Verlag von M. Warneck, 1916, S. 319 bis 320)
»(…) Daß ich wohl bin und glückliche Tage verlebe, ist jetzt die Hauptsache von dem, was ich dir zu berichten habe. […] Mein Freund G. 〈Gneisenau〉 repräsentiert wie ein Gott in seiner Generalsuniform. Die Truppen sind heiter und singen: „Auf, auf, Kameraden!“ und ähnliche Lieder, andere jodeln in Perfektion. […] General Scharnhorst wird heute abend erwartet; ich freue mich unendlich ihn wiederuzusehen. Er hat den König gebeten, mich wieder in die Armee zu nehmen. Se. Majestät haben gesagt: „Clausewitz – hm! – ja; ich will mich erkundigen, ob er bei den Russen gut gedient hat.“ Was daraus wird, weiß ich nicht recht. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clausewitz«, Ein Lebensbildnis in Briefen und Tageblättern von Karl Linnebach, Verlag von M. Warneck, 1916, S. 324 bis 325)
Wir wissen, der König von Preußen wird erst im Verlaufe des Jahres 1814 Clausewitz als Obersten wieder zurücknehmen. Aus den Briefen an seine Frau entnehmen wir, dass er schwer zu tragen hatte, im Avancement übersehen zu werden. Viele seiner Kameraden aus früheren Zeiten waren mittlerweile schon avanciert. Überhaupt spiegeln die persönlichen Briefe Clausewitz´an Marie eher die persönlichen Probleme des eigenen Fortkommens wider. Über den Soldaten an sich, außer Verlaufsschilderungen von Bewegungen, Gefechten und Schlachten erfahren wir nicht viel. Für die Problematik der Juden, kein einziges Wort.
Die Frage, die wir uns stellen, lautet: Warum gelang es Clausewitz 1813 nicht wie seinem Gönner, Freund und ewigen Vorgesetzten Gneisenau, Empathie zu entwickeln und über seine Soldaten begeistert zu schreiben? Seine »Kinder«, die Landwehr, muss er fechten gesehen haben!? Gneisenau berichtete ihm darüber aus Goldberg unter dem 28. August 1813:
»(…) Mein teurer Freund. Wir haben vorgestern eine schöne Schlacht gewonnen; entscheidend, wie die Franzosen noch nie entscheidend eine verloren haben. […] Diese Schlacht ist der Triumph unserer neugeschaffenen Infanterie. […] Ein Landwehrbataillon v. Thiele ward von feindlicher Reiterei umringt und aufgefordert, sich zu ergeben. Es feuerte; nur ein Gewehr ging los. Dennoch ergaben die Landwehrmänner sich nicht; Nein! Nein! schrien sie, und stießen mit den Bajonetten. […] Nur das Geschrei der Streitenden erfüllte die Luft; die blanke Waffe entschied. (…)«
(Vergl. »Gneisenau Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, Koehler & Amelang/Leipzig, S. 246 bis 248)
Bis heute mäandert durch die Literatur die Zeile eines Gedichtes des Niederlausitzer Schriftstellers Carl Heun (1771 bis 1854) »Der König rief und alle, alle kamen …«. Eine Metapher, die sich seit 1813 im Bewusstsein der Preußen über zwei Jahrhunderte hielt. Wir müssen hier schon noch zwischen den freiwilligen und den konskribierten Rekruten unterscheiden. Es gab Landkreise, wo sich die durch das Los bestimmten Männer dem Zug zur Fahne widersetzten. Der patriotisch gesinnte ostpreußische Landtag zögerte in Fragen der Aufstellung der Landwehr. Die Stadtverordneten Berlins richteten eine Petition an den König, in der sie baten, die Stadt Berlin von der Militärpflicht auszunehmen. Oder hier:
»(…) In Breslau kam es zu heftigen Tumulten, als die Bürger für die Landwehr vereidigt werden sollten. (…)«
(Vergl. Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Hans Delbrück, in Bd. 2, Verlag Stilke, Berlin, 1908, S. 353)
Tatsache ist auch, dass sich die Landwehr in der Anfangsphase der Befreiungskriege im Jahre 1813 mit begrenztem Stehvermögen zeigte, was vor allem auf mangelnde Ausbildung zurückzuführen war.
»(…) Sie (die Landwehr, Anm. Autor) stellte ein organisiertes Volksaufgebot dar, mit ungleichmäßiger, oft ganz mangelnder militärischen Ausbildung. Der natürliche Fehler einer solchen Truppe ist der Mangel an Zuverlässigkeit. Unmittelbar neben den Taten der höchsten Tapferkeit in Momenten einer glücklichen Anregung oder unter einem ungewöhnlich kräftigen Führer ist es vorgekommen, daß die Landwehrbataillone beim ersten Kanonenschuß die Waffen wegwerfend auseinanderstäubten. (…)«
(Vergl. Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Hans Delbrück, in Bd. 2, Verlag Stilke, Berlin, 1908, S. 352)
An dieser Stelle hier abschließend jedoch noch einmal Gneisenau, zitiert aus einem Brief an die Gattin vom 18. Oktober 1813 aus Wetterwitz bei Leipzig, des Morgens 5 Uhr:
(Vergl. »Gneisenau ein Leben in Briefen«, HG Karl Griewank, Verlag Köhler & Amelang, S. 260)
»(…) Liebe Marie, ich bin ganz wohl, ob mir gleich ein kleiner Franzose mit dem Bajonett hinter dem rechten Ohr gesessen hat. Man hat sich wütend geschlagen, und ich bin so recht mitten unter dem Feinde gewesen. Da uns nicht vergönnt war, auf die Führung des Gefechtes einen bestimmten Einfluß zu üben, so blieb uns nichts übrig, als mit dem Säbel in der Faust zu wirken. General Blücher hat eine Kontusion, General Scharnhorst einen Schuß ins Bein, doch nicht gefährlich; er ist aber zurück. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clausewitz« Ein Lebensbildnis in Briefen und Tageblättern von Karl Linnebach, Verlag von M. Warneck, 1916, S. 331 bis 331)
(Vergl. »Karl und Marie von Clausewitz«, Ein Lebensbildnis in Briefen und Tageblättern von Karl Linnebach, Verlag von M. Warneck, 1916, S. 347)*** Die »Formul des Soldaten-Eides«:
(Vergl. »Der Fahneneid«, Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Sven Lange, Edition Temme, 2002, S. 47 bis 48)