Teil 1
»Moral und Ethik« im Krieg ….. und Clausewitz?
»Das Meer, das Meer …«
Xenophon (*zwischen 430 und 425 v. Chr.; †ca. 354 v. Chr.), ein Schüler Sokrates, griechischer Politiker, Schriftsteller und Heerführer, schilderte in seinem Werk »Anabasis« den persischen Feldzug des jüngeren Kyros (*580 v. Chr.; †530 v. Chr.) gegen Artaxerxes II. (*etwa 453 v. Chr.; †359/58 v. Chr.).
Der Privatmann Xenophon übernahm in einer schwierigen und nahezu aussichtslosen Situation die Führung der griechischen Soldaten. Später ging dieses Ereignis als »Zug der Zehntausend« in die Geschichte ein. Seine umsichtige Führung in Gefechten, sein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Soldaten trugen zum Gelingen dieses legendären Rückzuges bei, der sich unter Bedrängnis der persischen Reiterei vollzog.
Das Beispiel dieses Zuges zeigt, wie wichtig das Zusammenwirken von Führung und Moral der Truppen für das Gelingen eines Unternehmens in scheinbar aussichtsloser Lage sein kann. Den Soldaten war das Ziel ihrer Anstrengungen bekannt und sie ließen – angesichts des Erreichens ihres Bestimmungsortes – ihren Emotionen freien Lauf. Ähnliche Erscheinungen spiegeln sich in der Militärgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit nicht selten wider.
Nachfolgender Textteil aus »Anabasis« wird auch als »Jubelruf der Rettung: θάλαττα θάλαττα« in der Literatur geführt.
»(…) 21. Am fünften Tag kamen sie bei dem heiligen Berg an, der den Namen Techs führte. Als die ersten den Berg erstiegen hatten und das Meer erblickten, erhob sich ein lautes Geschrei. […]
22. Als es Xenophon hörte, glaubte er und die Soldaten der Nachhut, dass von vorn her andere Feinde angegriffen; […]
24. Er schwang sich also aufs Ross und sprengte mit Lykios und der Reiterei zu Hilfe. Da hörten sie denn bald den aufmunternden Ruf der Soldaten: das Meer, das Meer! Nun lief alles, selbst die Soldaten der Nachhut; auch das Zugvieh und die Pferde wurden hingetrieben. […]
25. Als nun alle auf dem Berg angelangt waren, da fielen Heerführer und Hauptleute einander unter Tränen in die Arme. Und auf der Stelle trugen die Soldaten wie auf einen Befehl Steine zusammen und errichteten einen großen Hügel. (…)«
(Vergl. »Xenophon Anabasis Der Zug der Zehntausend«, Phillipp Reclam, 1958, S. 136 bis 137)
Die Untersuchung der Frage nach dem Zusammenwirken von Truppenführung sowie dem Geist und der Moral bewaffneter Formationen in Bewährungssituationen – nicht nur im Krieg – ist [aus Sicht des Autors] vorrangig eine soziologische Frage. Diese Betrachtungsweise lässt sich mit der Erkenntnis untermauern, dass bereits in der Mitte des 18. Jhd. durch den schottischen Moralphilosophen Adam Smith (*1723; †1790) – dem Begründer der klassischen Nationalökonomie – der Zusammenhang militärischer Fragen und sozialer Fragen untersucht wurde.
»(…) Die Befassung der Sozialwissenschaften mit der Organisation Militär reicht bis weit in die Zeit vor der Etablierung etwa von Soziologie oder Politikwissenschaft als eigenständigen Disziplinen zurück. So verweist bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts Adam Smith (1723 – 1790) auf die engen Beziehungen zwischen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung eines Staates und dem Militär. (…)«
(Vergl. »Handbuch Militär und Sozialwissenschaft«, Hg. Gareis, Klein, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 9)
Seit dieser Zeit wurde und wird diese Frage – bis in die Gegenwart hinein – wiederholt analysiert und weiter entwickelt. Die Termini Krieg, Genius der Truppenführer, [Kampf]Moral, Kampfkraft, militärische Tugenden sind nicht von ethischen Fragen zu trennen, da alle von der jeweiligen Politik determiniert werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit Carl von Clausewitz (*1. Juli 1780; †16. November 1831) sich diesen Fragen in ihrer Gesamtheit widmete. Krieg war bis in die Gegenwart hinein immer eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Clausewitz betrachtete den Krieg – in seinem Hauptwerk »Vom Kriege« – als einen erweiterten Zweikampf, in dem die Kontrahenten versuchen, ihren Gegner niederzuwerfen und somit kampfunfähig zu machen. Der dialektische Zusammenhang von Mittel und Zweck des Krieges wird hier überzeugend dargestellt.
»(…) Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. […] d. h., die physische Gewalt [denn eine moralische gibt es außer dem Begriffe des Staates und Gesetzes nicht], ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, Hg. Engelberg, Korfes, Verlag MfNV, Berlin 1957, 1. Buch, 1. Kapitel, S. 17)
Dabei muss der organisierte bewaffnete Kampf – der kriegerische Akt nach Clausewitz – immer als Hauptform betrachtet werden. Wobei er hier abweichende Varianten einräumt.
»(…) Ist nun das Ziel des kriegerischen Aktes ein Äquivalent für den politischen Zweck, so wird er im allgemeinen mit diesem heruntergehen, und zwar um so mehr, je mehr dieser Zweck vorherrscht; und so erklärt es sich, wie ohne inneren Widerspruch es Kriege mit allen Graden von Wichtigkeit und Energie geben kann, von dem Vernichtungskriege hinab bis zur bloßen bewaffneten Beobachtung. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, Hg. Engelberg, Korfes, Verlag MfNV, Berlin 1957, 1. Buch, 1. Kapitel, S. 26)
Im Falle eines »Vernichtungskrieges« war also das Ziel, das gegnerische Territorium zu besetzen, die gegnerischen bewaffneten Kräfte zu vernichten – d. h. töten, verwunden – oder gefangen zu nehmen. Wehrlos machen war das Ziel
»(…) Wir haben gesagt: Den Feind wehrlos zu machen sei das Ziel des kriegerischen Aktes, […] Hieraus folgt: daß die Entwaffnung oder das Niederwerfen des Feindes, wie man es nennen will, immer das Ziel des kriegerischen Aktes sein muß. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, Hg. Engelberg, Korfes, Verlag MfNV, Berlin 1957, 1. Buch, 1. Kapitel, S. 19 bis 20)
Die Verwirklichung möglicher Kriegsziele in Abhängigkeit der Methoden kriegerischer Akte war also von einer Reihe elementarer Faktoren abhängig, zu der aber auch die Kriegskultur gehört. Im Hauptwerk Clausewitz´stoßen wir konkret wenigstens an 52 Stellen [Quelle des Autors] auf den Begriff »Moralische Kräfte, Wirkungen und Größen im Kriege«. Den Oberbegriff »Ethik« finden wir indes nicht. Das ist erstaunlich, da sich zum Beispiel Kant – der Clausewitz nicht unbekannt war – prinzipiell mit ethischen Fragen auseinander gesetzt hatte. Ob Clausewitz Kants ethische Schriften, besonders aber die »Metaphysik der Sitten« – erschienen 1797 – jemals gelesen hat, wissen wir nicht. Gleichwohl spiegeln sich Kants »Moralphilosophie und die Tugendlehre« in seinen Werken wider.
Peter Paret formuliert dahingehend:
»(…) Clausewitz selbst war jedenfalls kein gelernter Philosoph. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob er die Kritiken Kants […] gelesen hat. (…)«
(Vergl. »Clausewitz und der Staat«, Hg. Peter Paret, Dümmler, 1993, S. 188)
Clausewitz selber wird also mitnichten ein »Kantianer« gewesen sein, aber er war geprägt durch seinen Lehrer Kiesewetter, bei dem er an der Kriegsschule in Berlin über die Kantsche Philosophie hörte. Dass er Kants Metaphysik, hier den »kategorischen Imperativ« mit seiner Grundaussage …
»(…) handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. (…)«
(Vergl. Kant: AAA IV, Grundlagen zur Metaphysik der Sitten, S. 421)
… eventuell kannte und verstanden haben dürfte, sehen wir anhand seines Politikverständnisses als gegeben an. Die Suche nach sittlichen Lösungen in militärischen Konflikten ist auch zu bemerken, wenn es um Leben und Tod – also um den Krieg – geht. So lesen wir in »Vom Kriege« Folgendes zur Anwendung äußerster Gewalt:
»(…) Sind Kriege gebildeter Völker viel weniger grausam und zerstörend als die der ungebildeten, so liegt das in dem gesellschaftlichen Zustande sowohl der Staaten in sich als unter sich. […] Finden wir also, daß gebildete Völker den Gefangenen nicht den Tod geben, Stadt und Land nicht zerstören, so ist es, weil die Intelligenz in ihrer Kriegsführung mehr mischt und ihnen wirksamere Mittel zur Anwendung der Gewalt gelehrt hat als diese rohen Äußerungen des Instinkts. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, Hg. Engelberg, Korfes, Verlag MfNV, Berlin 1957, 1. Buch, 1. Kapitel, S. 18 bis 19)
Aber auch in der Korrespondenz mit seiner Frau Marie ist sittliches Politikverständnis zu erkennen. So schrieb Clausewitz am 12. Juli 1815 aus Fontainbleau – nachdem Napoléon endgültig geschlagen war – über seine Befürchtungen des unehrenhaften Umganges mit dem unterlegenen Gegner. Er hatte von unangemessenen Kontributionen erfahren. Für Blüchers Forderung, die »Brücke von Jena« in Paris zu sprengen, hatte er keinerlei Verständnis. Diese Brücke wurde nach dem Sieg Bonapartes bei Jena und Auerstedt 1806 so benannt. F. W. III. konnte das verhindern. Clausewitz hatte einen Präliminarfrieden mit Frankreich im Sinn, der keinen neuen Krieg im Keim haben würde.
»(…) Mein sehnlichster Wunsch ist […], schreibt er an Marie, […] daβ dieses Nachspiel ein baldiges Ende nehmen möge; denn eine Stellung mit dem Fuβe auf dem Nacken eines anderen ist meinen Empfindungen zuwider und der unendliche Konflikt von Interessen und Parteiungen meinem Verstande. Geschichtlich werden die Engländer die schönste Rolle in dieser Katastrophe spielen; denn sie scheinen nicht wie wir hergekommen zu sein mit der Leidenschaft der Rache und Wiedervergeltung, sondern wie ein züchtigender Meister mit stolzer Kälte und tadelloser Reinheit – kurz, vornehmer als wir. (…)«
(Vergl. Carl und Marie von Clausewitz – Briefe, Ein Leben im Kampf für Freiheit und Reich, von Otto Heuschele, S. 246 bis 248)
Für Clausewitz war also die Vernunft im Kriege – frei nach Kant – von fundamentaler Bedeutung. Das Lavieren der siegreichen Monarchen nach Waterloo, die sich wie 1814 nicht unbedingt einig waren, wie mit dem »Ungeheuer« [nach E. M. Arndt] und Frankreich zu verfahren war, betrachtete Clausewitz mehr als skeptisch. Alles war seiner Erkenntnis nach abhängig vom Verhältnis zwischen Zweck und Mittel, also vom »Kriegsplan«. So formuliert in »Vom Kriege«:
»(…) Der Kriegsplan faßt den ganzen Akt zusammen, […] Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel. (…)«
(Vergl. Carl von Clausewitz »Vom Kriege«, Hg. Engelberg, Korfes, Verlag MfNV, Berlin 1957, Skizzen zum achten Buch Kriegsplan, 2. Kapitel, S. 694)
An dieser Stelle sei ein kurzer Blick in die Gegenwart gestattet. Die Welt war unlängst Zeuge, wie die NATO-Truppen nach rund zwei Jahrzehnten kopflos aus Afghanistan abzogen, ohne irgendeinen nachhaltigen Erfolg ihres Krieges verzeichnen zu können. Damit endete auch der verlustreichste und teuerste Einsatz der Bundeswehr in ihrer Geschichte. Insgesamt starben seit 2001 über 3.500 Soldatinnen und Soldaten der NATO und ihrer Verbündeten in Afghanistan. Davon leider auch 59 Soldaten der Bundeswehr. Seit 2009 sind über 39.000 Menschen aus der Zivilbevölkerung getötet und über 73.500 verletzt worden.
(Vergl. Bundeszentrale für politische Bildung, 7.6. 2021, Politik, Hintergrund aktuell)
Wenn die Politiker der NATO-Staaten 2001 Clausewitz gekannt und verinnerlicht hätten, wäre dieser Krieg – wie viele andere auch – in dieser Form nie geführt worden. Zu einem Parallelereignis liegt eine seltene offene Kritik eines Truppenkommandeurs an der Politik vor. Bereits 2006 hatte der britische General Sir Richard Dannatt – damaliger Heereschef im Irak – u. a. die Invasion im Irak und ihre »armselige« Planung kritisiert. Die Briten waren seit der Invasion im März 2003 der wichtigste ausländische Verbündete der Vereinigten Staaten im Irak. Insgesamt waren etwa 7.000 Soldaten im Einsatz.
»(…) Die Geschichte werde vermutlich zeigen, daß die Planung für die Nachkriegsphase armselig gewesen sei und mehr auf Optimismus beruht habe. „Die ursprüngliche Absicht war, eine freiheitliche Demokratie einzusetzen, die ein Vorbild für die Region und pro-westlich sein und vielleicht einen positiven Effekt auf das Gleichgewicht im Nahen Osten haben würde“, sagte Dannatt. „Ich glaube nicht, daß wir das erreichen werden.“ (…)«
(Vergl. faz.net, 2006)
Alles deutet auf ein elementares Fehlen einer politischen Ethik im Clausewitz‘schen Sinne hin. Betrachtet man also die Moralphilosophie Kants mit Clausewitz´ Augen, so stößt der Leser auf folgende Fakten. Die Moral wirkt unter bestimmten Gesetzmäßigkeiten: der Vernunft, der Sittengesetze und der Befolgung von für den Menschen allgemein gültigen Rechtsnormen. Hier wirkt also Kants kategorischer Imperativ, wie bereits weiter vorn dargestellt.