Teil XIII
Der 2. Pariser Frieden mit dem Definitiv-Tractat, am 20. November 1815 zwischen dem Kaiser von Österreich und seinen Alliierten, dem Zaren von Russland, dem König von Preußen und dem König von Frankreich abgeschlossen, setzte den endgültigen Schlusspunkt hinter die sechs europäischen Koalitionskriege von 1792 bis 1815. Mit dem sechsten Krieg endeten für Preußen die opferreichen Befreiungskriege von 1813 bis 1815. Damit wurde auch der Schlusspunkt hinter dem 1. Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 gesetzt, an dem noch England beteiligt war. Die Ratifizierung des Definitiv-Tractats lag den Monarchen am 16. Februar 1816 vor.
Noch vor dem 2. Pariser Frieden unterzeichneten Friedrich Wilhelm III., der österreichische Kaiser und der russische Zar am 26. September 1815 die Gründungserklärung der »Heiligen Allianz«. Damit wurde für eine längere Zeit in Mitteleuropa Frieden gewährleistet.
Die aus den Kriegen von 1813/14/15 heimkehrenden jüdischen Freiwilligen und konskribierten jüdischen Männer Preußens kamen zurück mit der Hoffnung, dass König und Staat Wort halten würden. Versprochen wardie Freiheit des Bürgers und eine Verfassung. Der österreichische Staatsrechtler Georg Jellinek(1851 bis 1911) definierte den Begriff »Staatsverfassung« so:
»(…) Jeder dauernde Verband bedarf einer Ordnung, der gemäß sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt, die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt wird. Eine derartige Ordnung heißt eine Verfassung. (…)«
(Vergl. Allgemeine Staatslehre, G. Jellinek: Erkl. der Menschen- und Bürgerrechte; derselbe: Das Recht der Minoritäten 1898 S. 7 ff.)
Ausgangspunkt hätte die Französische Verfassung von 1793 sein können.
Nach dem Wiener Kongress von 1815 konnte Fürst von Hardenberg(*1750; †1822) dem König von Preußen die Zustimmung für eine Verfassung abringen, nachdem er diese Idee schon 1810 vorgetragen hatte. Am 22. Mai 1815 erließ daraufhin F. W. III. endlich die »Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes«, die jedoch nicht wirksam wurde. Auch ein weiterer Versuch Hardenbergs im Januar 1820 scheiterte.
(Vergl. Hans-Werner Hahn/Helmut Berding, Reformen, Restauration und Revolution, S. 142)
Der im Zuge des Wiener Kongresses am 8. Juni 1815 mit der Urkunde »Deutsche Bundesakte« gegründete und von 38 Mitgliederstaaten unterzeichnete Deutsche Bund hatte mit der Bildung eines Bundesheeres unmittelbaren Einfluss auf das Leben Carl von Clausewitz‘ nach den Freiheitskriegen. Preußen stellte für den Bestand des Bundesheeres mit zehn Armeekorps, drei Korps mit rund 79.234 Mann zur Verfügung.
(Vergl.https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Das-Deutsche-Militaerwesen-1-Vor-1867/das-deutsche-militaerwesen-vor-1867.html)
Hier treffen wir auch wieder auf unseren Carl, der am 3. Oktober 1815 auf Drängen Gneisenaus zum Generalstabschef beim neu gebildeten Korps berufen wurde.
(Vergl. »Denkwürdigkeiten des Generals … Albrecht von Stosch«, 1904, S. 25)
Abseits der großen Politik hofften die jüdischen Bürger Preußens auf Fortsetzung und Konsolidierung der preußischen Politik, die Emanzipation betreffend. In der ersten deutschsprachigen jüdischen Zeitung »Sulamith«(Eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter den Israeliten.) war 1815 zu lesen:
»(…) Nachdem aber überall in Deutschland die Israeliten an der Vertheidigung des Vaterlandes den pflichtgemäßigen Antheil genommen, und sich mit den Waffen in der Hand als Bürger bewährt haben, so sind sie eben dadurch auch zu Bürgern wirklich geworden, und würde es unbillig, ja ungerecht sein, sie von den Rechten der Bürger noch länger abschließen zu wollen. (…)«
(Vergl. »Eisernes Kreuz und Davidstern« Die Geschichte Jüdischer Soldaten in Deutschen Armeen, trafo, 2006, S. 68)
Ein Beispiel der romantischen Euphorie für das Bestreben jüdischer Bürger lieferte der deutsche Schriftsteller und Prediger Karl Siegfried Günsburg(*1784; †1860) zusammen mit dem deutschen Prediger Eduard Israel Kley(*1789; †1867), einem Anhänger des Reformjudentums. Sie veröffentlichten in der preußischen Hauptstadt einen »Ruf zu den Fahnen«:
»(…) O himmlisches Gefühl! ein Vaterland zu besitzen! O entzückender Gedanke! einen Ort, eine Stelle, einen Winkel auf dem schönen Erdenrunde sein nennen zu dürfen … Dort auf dem Felde der Ehre, wo alle Herzen von Einem Geiste nur beseelt sind, wo alle für ein einzig Ziel nur wirken: dort sieht man auch die Scheidewand der Vorurteile gänzlich niedersinken, ihr werdet Hand in Hand mit euren Kriegsgefährten das große Werk vollenden, sie werden euch den Bruder-Namen nicht versagen, denn ihr werdet ihn verdienen. (…)«
(Vergl. »Von Moses Mendelssoh zu Leopold Zunz« … , Verlag C. H. Beck München, 1994, S. 160)
In der Realität der Zeit sehen wir jedoch den Versuch, die bis dahin erreichten Linien zurückzustecken. Dabei werden eine Reihe in den Reformen zugesicherten Rechte nach 1815 schrittweise wieder aufgehoben. Die Vorurteile, von denen im »Ruf zu den Fahnen« zu lesen sind, sind die jahrhundertealten Klischees und Verschwörungstheorien, die nach 1815 in Preußen wieder hervorbrechen. Der traditionelle Antijudaismus in seinen drei Bestandteilen der Judenfeindschaft – der religiösen, der ökonomischen und der rassistischen (wir verwiesen weiter oben in unserer Betrachtung bereits darauf) – lebte nach 1815 erneut auf. Im weiteren Verlauf unserer Betrachtung werden wir darauf zurückkommen.
Unter den Juden Preußens, die in »patriotischer Hochstimmung«“ schwelgten, gab es sehr wenige Menschen, die in der Lage waren, rational vorauszuschauen. Einer davon war der Dessauer Pädagoge und Verleger hebräischer Bücher Moses Philippson(*1775; †1814). Nach Auskunft seines Sohnes und von Biographen erwähnt sagte er bereits 1813:
»(…) Als Israelit muß ich bekennen, daß ich für die Gleichstellung meiner Glaubensgenossenschaft nach dem Sturz Napoleons wenig erwarte, man wird sie wieder in die alten Fesseln schlagen, die doch nur in einem kleinen Theile Deutschlands gebrochen und gelüftet sind. (…)«
(Vergl. Philippson, Biographische Skizzen. B.I, S. 117)
An dieser Stelle einige Worte zur außergewöhnlichen jüdischen Familie Philippson, mit ihren Magdeburgischen Wurzeln. Die prophetischen Worte Moses Philippsons sollten sich in der preußisch-deutschen Geschichte vom »Vorurteil bis zur physischen Vernichtung« (Jakob Katz) durch die bittere Wahrheit des Holocaust bestätigen.
Jener Moses Philippson war der Vater des Dr. Ludwig Philippson(*1811; †1889), erster Rabbiner der Synagogengemeinde zu Magdeburg. Dessen Sohn wiederum, der Prof. Dr. Martin Philippson, publizierte die hier weiter oben bereits mehrfach angeführte Schrift »Die jüdischen Freiwilligen im preußischen Heere während der Befreiungskriege 1813/1814«.
Aus der weitverzweigten Familie Philippson kämpften junge Männer in den Schlachten bei Königsgrätz 1866, 1870 bei Sedan & St. Privat La Montagne sowie bei der Einschließung von Paris. Im WK I verlor ein Ernst Philippson sein Leben 1917 vor Lens. Ein Julius Philippson war Träger des »Eisernen Kreuzes I. Klasse«. An Ernst Philippson erinnert ein Ehrenmal auf dem jüdischen Friedhof in Magdeburg-Sudenburg, wo sein Name mit weiteren 44 gebliebenen jüdischen Männer verewigt ist. Der Träger des EK I im 1. Weltkrieg, Julius Philippson, wurde später im Jahr 1943 in Auschwitz ermordet, nachdem er sich in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus eingebracht hatte.
An die Magdeburger Familie Philippson erinnern heute – neben dem Ehrenmal auf dem jüdischen Friedhof – das Mahnmal für die ermordeten Magdeburger Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus im Steubenpark zu Magdeburg und drei »Stolpersteine« in der Oststraße/Ecke Lingnerstraße, dem ehemaligen Wohnhaus der Philippsons.
(Vergl. »Jüdische Soldaten Magdeburgs«, Regionalgeschichtliche Aspekte des Ersten Weltkrieges“, Mitteldeutscher Verlag, 2018, S.15/ 23/71 bis 76)
Zurück aber in das Jahr 1815. Carl von Clausewitz diente drei Jahre von 1815 bis 1818 als Generalstabschef in Koblenz. Politisch gesehen geht die erste Phase der Existenz des Deutschen Bundes von 1815 bis 1848 als »Vormärz« oder »Restauration« in die Geschichte ein. Der Bund wird 1866 nach dem Krieg zwischen Preußen und Österreich aufgelöst werden. Die Bundesversammlung vereinte formal Österreich, Preußen, Bayern, Württemberg, Hannover, Sachsen, vier freie Städte: Hamburg, Bremen, Lübeck, Frankfurt am Main sowie kleinere Fürsten- und Herzogtümer.
In allen der anfangs 39, später 35 Staaten bewegte die Frage der Emanzipation der Juden sowohl Herrschende als auch Bürger der Staaten. Die vergangenen Jahre seit der Französischen Revolution von 1789 bis 1815 haben Europa und vor allem Preußen verändert. Jedoch zeichnete sich sehr schnell ab, dass dieser Verbund dazu dienen sollte, die Zeit um ein knappes Vierteljahrhundert zurückzudrehen. Träume von Freiheit, Mitbestimmung, Verfassung und Emanzipation der Bürger und damit auch der Juden gingen in den »Karlsbader Beschlüssen« und der damit verbundenen »Demagogenverfolgung« langsam unter.
An Carl von Clausewitz wird diese Entwicklung sicherlich nicht unbemerkt vorbeigegangen sein. Entsprechend seiner Art wird er seine Dienstpflichten als Chef des Stabes umsichtig und gründlich erfüllt haben, so wie das in den Kriegsjahren bei ihm zu beobachten war. Was nun seine politische Beobachtungsgabe betraf, schreibt Ulrich Marwedel:
»(…) Die ihm Nahestehenden bestätigten ihm eine ausgeprägte Gabe für das klare Erfassen politischer Zusammenhänge und eine unwandelbare, auch vor persönlichen Opfern nicht zurückschreckende Treue gegenüber den einmal für richtig erkannten Anschauungen, während er den konservativen Kreisen gerade deswegen verdächtig erschien. (…)«
(Vergl. »Carl von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Werkes bis 1918«, U. Marwedel, zitiert nach Zwengel, H. Boldt Verlag, 1978, S. 209)
Zeit und Muse, sich eine umfassende Meinung zu bilden, hatte Clausewitz in der Koblenzer Zeit wohl genug, wenn wir den Quellen Vertrauen schenken wollen. Nahezu alle Historiker, die sich mit Clausewitz befasst haben oder das gegenwärtig noch tun, sind sich in Einem einig. Diese drei Jahre im moderaten und klimafreundlichen Rheinland gehörten trotz alter und neuer politischer und persönlicher Probleme wahrscheinlich zu den besten seines Lebens. Umgeben von einem Kreis geschätzter Offiziere, Beamten und auch Verstandesmenschen wie den romantischen Dichter Max von Schenkendorf(*1783; †1817).
Schenkendorf, teilnehmender Beobachter (Schenkendorf war dienstuntauglich) der Befreiungskriege und nun Regierungsrat in Koblenz, mit der Militärverwaltung betraut, war Vertrauter von Marie und Carl von Clausewitz. Seine Lieder und Gedichte dürften bei Carl Spuren in seiner Verstandestätigkeit hinterlassen haben. Der viel zu früh, schon am 17. Dezember 1817 verstorbene Freiheitsdichter stellte die Frage:
Die mein Herz erfüllt
Komm mit deinem Scheine
Süßes Engelsbild!
Magst du dich nie zeigen
Der bedrängten Welt?
Führest deinen Reigen
Nur am Sternenzelt?
Dieses Lied, später vertont durch Karl August Gross, im Ergebnis der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 entstanden, schien nach dem Erstdruck 1815 bereits das Misstrauen gegenüber der Politik Metternichs auszudrücken. Womöglich hatte Clausewitz die Frage nach der Freiheit im Rahmen seiner Staatsauffassung geteilt.
*Ein Nachfahre des Dichters, Max Heinrich Moritz Albert von Schenckendorff(*1875; †1943), in WK II, General der Infanterie, war als Befehlshaber Rück. der Heeresgruppe Mitte 1942 bis 1943 in Handlungen zur Vernichtung von Juden schuldhaft verwickelt.
Neben Schenkendorf wollen wir hier noch Joseph Görres(*1776; †1848) , den Gelehrten und Publizisten erwähnen, der unter dem Titel »Teutschland und die Revolution« (1809) eine in glühender Sprache gehaltene Kampfschrift gegen den Polizeistaat veröffentlichte. Für Görres waren Staat, Religion und Monarchie bei Bewahrung der geistigen und politischen Freiheit des Einzelnen von fundamentaler Bedeutung. Diese Sicht wurde wohl auch von Clausewitz mindestens zur Kenntnis genommen. Görres drohte 1819 an dieser Stelle die Hand des Preußenkönigs, der ihn dafür nach Spandau bringen wollte.
(Vergl. Wilhelm Schellberg, Joseph von Görres, Köln 1926, Gilde-Verlag, Seite 101)
Schon im Jahr 1814 nach dem 1. Pariser Frieden schrieb Görres im »Rheinischen Merkur» folgendes:
»(…) Nur indem man dem Volke seinen billigen Teil an seiner Regierung gestattet, kann ihm auch allein jene lebendige Teilnahme an dem allgemeinem Wohle angemutet werden, die zum ferneren Bestande schlechterdings erfordert wird. (…)«
(Vergl. Freiherr von und zum Stein, G. Schmidt, Berlin 1955, S. 460)
(Vergl. »Clausewitz und der Staat«, Peter Paret, Dümmler, 1993, S. 319)Stein war federführend für die Einführung einer Verfassung im Herzogtum Nassau tätig. Nassau war somit 1814 einer der ersten Staaten im Bund, der über eine Konstitution verfügte. Sicher waren in den Gesprächen zwischen Stein, Clausewitz und Gneisenau Fragen einer Verfassung allgemein und besonders für Preußen von einiger Wichtigkeit. Hans Delbrücks Schilderung möglicher Gedanken Gneisenaus – diese Frage betreffend – müssen auch für Clausewitz wegen seiner persönlichen Nähe zu seinem Vorgesetzten von Bedeutung gewesen sein.»(…) Ganz entsprechend seiner Parteinahme in der preußischen Verfassungsangelegenheit zeigt sich Gneisenaus Charakter in der Frage der deutschen Einheit. […] Während Stein und Hardenberg noch ferner suchten, das Unmögliche möglich zu machen, schrieb Gneisenau diesen schon im Jahre 1814, daß er eine gut deutsche Konstitution zu entwerfen für eine Unmöglichkeit halte; Bayern und Würtemberg würden sich nicht fügen. Man müsse sich daher darauf beschränken, für Preußen zu sorgen, das sie am nächsten angehe. Preußen aber, dem sein Kriegsruhm schon in ganz Deutschland Stimmen verschaffte, müsse in Zukunft so gestaltet werden, daß die übrigen Deutschen […] selber den Anschluß an diesen Staat wünschten. Das beste Mittel dazu sei eine gute Konstitution. (…)«(Vergl. »Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau«, in zwei Bd., Hans Delbrück, Verlag G. Stilke, 1908, S. 350 bis 351)In diesen Fragen dürften zwischen Stein und Clausewitz angeregte Gespräche stattgefunden haben. Wie wird es aber in der Frage der Emanzipation der jüdischen Bürger Preußens einerseits und der in den anderen deutschen Staaten ausgesehen haben?
»(…) Um den kommandierenden General herrschte eine heitere, geistvoll-angeregte Geselligkeit, wie er sie liebte. […] Max von Schenkendorf besang diese „Tafelrunde am Rhein“, die er selbst als preußischer Beamter im Rheinland miterlebte:
Der Sänger kommt zur guten Stunde,
Und ihn empfängt ein holder Gruß,
Den Feldherrn und die Tafelrunde,
Erblickt er an dem grünen Fluß. (…)«
(Vergl. »Gneisenau ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griewank, Köhler & Amelang, 1939, S.335)
In Berlin am Hofe des Königs hörte und las man davon. Denn die »Maulwürfe«, wie Boyen Zuträger vom Schlage Kalckreuth und Grawert nannte, und die nach 1815 nach wie vor um den König waren, wähnten dort am Rhein Jakobiner und Revolutionäre und sorgten so für Misstrauen des Monarchen gegenüber den um Gneisenau versammelten Offizieren. Stab und Runde in Koblenz wurde mit »Wallensteins Lager« bezeichnet. In Berlin hatte man offensichtlich Schiller gelesen. Friedrich Wilhelm wird später gegenüber Gneisenau einräumen, dass er bei ihm angeschwärzt worden sei.
(Vergl. »Gneisenau ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griewank, Köhler & Amelang, 1939, S. 335)
Für Gneisenau war das offensichtlich auch der Hauptgrund für seinen überraschenden Abschied, um den er im Frühjahr 1816 einkam. Derartige Verdächtigungen waren für Gneisenau, Clausewitz und die Reformer keine neue Erscheinung:
»(…) Gneisenau beobachtete mit Unmut die Welle politischer Verdächtigungen, die 1815 einsetzte und zu den Verbotsmaßnahmen der nächsten Jahre, schließlich zu der großen Demagogenverfolgung von 1819 führte. (…)«
(Vergl. »Gneisenau Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griewank, Köhler & Amelang, 1939, S. 335 bis 336)
Die Geschichte des Wiener Kongresses mit ihren nahezu unermesslichen Verhandlungspunkten, Akten, Einzelverträgen, Anhängen und Konventionen, die sich von September 1814 bis Juni 1815 hinzog, hier darzustellen, wäre zu weitläufig. Wir müssen aber bemerken, dass die Verhandlungen einen sehr inkonstanten Verlauf nahmen, ehe sich Preußen und Österreich auf einen Vorschlag zu einer »Bundesverfassung« einigen konnten. Als Datum dafür ging der 23. Mai 1815 in die Geschichte ein. Nachdem die Widerstände einiger süddeutschen Staaten überwunden waren, wurde der Verfassungsentwurf am 8. Juni 1815 paraphiert und lag am 10. Juni zur Unterzeichnung vor. Die sog. Deutsche Bundesakte war somit ab 9. Juni 1815 Bestandteil des Vertragswerkes des »Wiener Kongresses« unter »VIII. Allgemeine Verfügungen – Artikel 118 – Confirmation der besonderen Tractaten und Acten«
(Vergl. staatsvertraege.de/Frieden1814 bis 15/)Eine spätere Ergänzung der Kongressakte führte über die »Karlsbader Beschlüsse«(vom 6. bis 31. August 1819) vom 15. Mai 1820 an geradewegs zur Demagogenverfolgung, auf die wir hier später noch zurückkommen werden. Heinrich von Treitschke bemerkte zu dieser Causa:»(…) Der Befreiungskrieg hatte die schwerste Krankheit des alten Staatensystems, die Zersplitterung Deutschlands und Italiens, nicht geheilt. […] So entstand die Bundesakte, die unwürdigste Verfassung, welche je einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrschern auferlegt ward, ein Werk, in mancher Hinsicht noch kläglicher als das Gebäude des alten Reiches in den Jahrhunderten des Niederganges. (…)«(Vergl. Treitschke »Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert«, H. Heffter, Bd.1, Kröner Verlag Leipzig, S. 375 bis 377)
Gleichwohl wurde wurde in diesem Zusammenhang erstmalig zwischen zwei europäischen Großmächten – Österreich und Preußen – die »Judenfrage« in Mitteleuropa zur Verhandlung gebracht und damit haben
»(…) Österreich und Preußen, sich mit aller Bestimmtheit vor einem europäischen Forum für die Gleichstellung der Juden ausgesprochen und sie in zähem Ringen gegen den Widerstand einer großen Anzahl von Kleinstaaten durchgesetzt gesucht. (…)«
(Vergl. Unveröffentlichte Aktenstücke zur Judenfrage auf dem Wiener Kongress (1814 bis 1815) S. Baron, »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums«, Jahrg. 70, H.11/12, Nov./Dez. 1926)
»(…) Die zweite Phase, man kann sie als Restaurationsphase bezeichnen, datiert von 1815 mit den Entscheidungen auf und nach dem Wiener Kongreß und endet 1847, als die preußische Regierung versuchte, per Gesetzesvorlage auf dem 1. allgemeinen Preußischen Landtag, die jüdische Minderheit als Korporation aus der bürgerlichen Gesellschaft auszugliedern. (…)«
(Vergl. Juden in Preußen – Juden in Hamburg, HG P. Freimark, H. Chrisians Verlag, 1983, S. 33 bis 34)
Deutsche Bundesakte
vom 8. Juni 1815
»(…) Art 16. Die Verschiedenheit der christlichen Religions-Partheyen kann in den Ländern und Gebiethen des deutschen Bundes keinen Unterschied in dem Genusse der bürgerlichen und politischen Rechte begründen.
Die Bundesversammlung wird in Berathung ziehen, wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sey, und wie insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Uebernahme aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten verschafft und gesichert werden könne; jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin die denselben von den einzelnen Bundesstaaten eingeräumten Rechte erhalten. (…)«
(Vergl. documentenarchiv.de Art 16. Deutsche Bundesakte)
Der damalige Bund verfügte weder über eine Bundesregierung, noch über eine Volksvertretung oder ein Bundesgericht. Die Bundesmitglieder sollten stattdessen Unstimmigkeiten gemäß des Art. 11 friedlich in der Bundesversammlung vortragen. Aus Art. 11 Bundesakte:
»(…) Die Bundes-Glieder machen sich ebenfalls verbindlich, einander unter keinerley Vorwand zu bekriegen, noch ihre Streitigkeiten mit Gewalt zu verfolgen, sondern sie bey der Bundesversammlung anzubringen. Dieser liegt alsdann ob, die Vermittlung durch einen Ausschuß zu versuchen; falls dieser Versuch fehlschlagen sollte, und demnach eine richterliche Entscheidung nothwendig würde, solche nur eine wohlgeordnete Austrägal Instanz zu bewirken, deren Ausspruch die streitenden Theile sich sofort zu unterwerfen haben. (…)«
(Vergl. documentenarchiv.de Art 16. Deutsche Bundesakte)
Gemäß des Art.13 der Bundesakte sollten alle Mitglieder ihren Völkern eine Verfassung geben: »(…) Art. 13. In allen Bundesstaaten wird eine Landständige Verfassung stattfinden. (…)«
(Vergl. documentenarchiv.de Art 16. Deutsche Bundesakte)
Die Artikel 11 und 13 sollten die Grundlage für den Art. 16 bilden. Wie eine Reihe anderer Artikel wurden diese kaum oder nur teilweise umgesetzt. Die hier dargestellte Endfassung des Art. 16 führte in einigen Staaten sogar zu Repressionen gegenüber Juden.
Die hier zu lesende Fassung des Art.16 war nicht die ursprüngliche, so wie sie unter anderem durch die Mitwirkung von Hardenberg und W. v. Humboldt gedacht war. Diese lautete im Text an entscheidender Stelle:
»(…) Die Bundesversammlung wird in Beratung nehmen, wie auf möglichst übereinstimmender Weise die bürgerliche Verbesserung der Juden zu erwirken sei, und wie insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Übernahme aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten verschafft oder gesichert werden können.Jedoch sollen den Juden bis dahin die denselben in den Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte erhaltenbleiben. (…)«
(Vergl. »Zur Geschichte der Juden im Gebiet der ehemaligen Grafschaft Hanau«, Hanauer Geschichtsblätter, Bd. 19, 1963, S. 115)
In primo aspecto wird dem geneigten Leser der signifikante Unterschied zwischen den Formulierungen im letzten Satz des Artikels nicht sofort auffallen. Aber im ersten Entwurf hatte es geheißen »in den Staaten« und nicht »von den Staaten«. Einige Historiker meinen, dass diese Änderung eigenmächtig und unbefugterweise vorgenommen wurde. Die Bedeutung dessen war:
»(…) und das wurde so interpretiert, daß damit die Rechte gemeint seien, die von den örtlichen Regierungen erlassen worden waren, die vor Napoléon an der Macht waren und ihren Platz danach wieder eingenommen hatten. (…)«
(Vergl. Jakob Katz »Vom Vorurteil bis zur Vernichtung – Der Antisemitismus 1700 bis 1933«, Union Verlag, 1980, S. 79)
In den »Hanauer Geschichtsblättern« lesen wir folgende Darstellung über die Hintergründe der Veränderungen:
»(…) Das Protokoll des Kongresses wurde durch den bestechlichen Gentz geführt, der im Schlußprotokoll vom 8. Juni 1814 unbefugterweise dem Antrag des Bremer Senators Schmidt stattgab, das Wort »in« durch das Wort »von« zu ersetzen. Dadurch wurden gegen gegen den Willen der Kongreßmehrheit die Errungenschaften der Juden in der napoleonischen Zeit zunichte gemacht.(zitiert nach Graetz). Das ging bis zu dem Extrem, daß Bremen und Lübeck nach dem Wiener Kongreß ihre jüdischen Bürger auswiesen. (…)«
(Vergl. »Zur Geschichte der Juden im Gebiet der ehemaligen Grafschaft Hanau«, Hanauer Geschichtsblätter-Bd. 19, 1963, S. 115)
Gentz, Friedrich von Gentz(*1764; †1832) war der »Sekretär Europas«. Golo Mann beschreibt diese historische Figur in »Friedrich von Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes« folgendermaßen:
»(…) Eine Stellung, geeigneter seine Talente spielen zu lassen, konnte der vaterlandslose Staatsmann sich nicht erträumen. Er war der Sekretär Europas. Er war der Sprecher und Berater einer Staatengemeinschaft, in der er seit fünfundzwanzig Jahren mit seinen Gedanken gelebt hatte, und die sich jetzt, auf einen Ort konzentriert, zum erstenmal zu verwirklichen schien. (…)«
(Vergl. Golo Mann, »Friedrich von Gentz – Geschichte eines europäischen Staatsmannes«, Ullstein, 1972, S. 227)
Am 20. Juni 1815 meldet Gentz an Metternich(*1773; †1859), dem Spiritus Rector des Wiener Kongresses, folgendes:
(…) Gestern Abend sind die Originalien des Kongressinstruments unterzeichnet worden. Diese Sitzung, die in Ew. Durchl. Vorzimmer neben Ihrem Kabinett gehalten wurde, hätte feierlich und imposant sein können und sollen; sie war es aber nicht, weil sich jeder zu sehr mit der Sorge für sein eigenes Exemplar beschäftigte (…)«
(Vergl. »Briefe von und an Friedrich von Gentz« Hg. F. C. Wittichen & E. Salzer, 3. Bd., 1913/Reprint, S. 305)
Besser als Gentz selber konnte die Atmosphäre, die auf dem Kongress herrschte, wohl keiner charakterisieren. Immerhin musste der »Sekretär Europas« Forderungen, Bitten und Vorschläge von über zweihundert Staaten, Fürstentümern und reichsfreien Städten filtern, bündeln, verwerfen lassen und am Ende zu Papier bringen und darüber hinaus noch dafür sorgen, dass Fürst Metternich den Inhalt der Korrespondenz der Parteien des Kongresses kannte. Der deutsche Historiker und nationalliberale Politiker Georg Gottfried Gervinus(*1805; †1871), wird 1855 über die beim Kongress versammelten Staaten urteilen:
»(…) Keiner war im Stande, den schadhaften Stoff der deutschen Verhältnisse für eine natürliche und gesunde Staats- oder Bundesbildung tauglich zu machen. Keiner hat aber auch nur auf dem Papier einen Entwurf niedergelegt, in dem die wunden Stellen dieses Staatswesen mit sicherer Hand bezeichnet und die Mittel zu einer gründlichen Heilung angegeben wären. (…)«
(Vergl. Georg Gottfried Gervinus, »Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts«, Bd. 1, Leipzig 1855, S. 305)
Gervinus´Einschätzung trifft voll inhaltlich auf die Bemühungen und die Widerstände zu, die in Fragen der Emanzipation der Juden in Preußen und den anderen Teilnehmerstaaten 1815 herrschten. Noch zu Lebzeiten Clausewitz´ wird es eine »Bücherverbrennung« durch Burschenschaften auf der Wartburg 1817, die sog. Hepp-Hepp Bewegung 1819, die Julirevolution in Frankreich 1830 sowie die belgischen und polnischen Unruhen 1830 bis 1831 geben. Inwieweit Carl das reflektieren und kommentieren wird, wollen wir versuchen im Weiteren noch darzustellen.
Zu Gentz und Clausewitz können wir zunächst schon eine historische Verbindung herstellen. In einem Vortrag von Prof. Bruno Colson(*1957), dem belgischen Historiker und Kenner der Kriegs- und Strategiegeschichte (moderne und zeitgenössische Epochen), anläßlich des 240. Geburtstag des Carl von Clausewitz, wird diese dargestellt. Veröffentlicht im »Burger Clausewitz Jahrbuch 2020«.