Teil XVII
Die Schlachten waren geschlagen. Das »Ungeheuer« Napoléon Bonaparte saß auf der Insel St. Helena – fünfeinhalb Jahre auf seinen Tod am 5. Mai 1821 wartend – fest verbannt im »Longwood House«, unter ständiger strenger Bewachung des Inselgouverneurs Hudson Lowe (*1769; †1844)
Wie aber war die Lage für die preußischen Juden in der Zeit nach den Befreiungskriegen? Bereits früher verwiesen wir auf den Artikel in der Zeitschrift »Sulamith«, erschienen kurz nachdem die Waffen schwiegen. In diesem wurde auf das Recht der Juden gedrängt. Nun Bürger geworden, waren auch die Rechte der Bürger nicht länger auszuschließen. Bezugnehmend auf die damals gehegte Hoffnung müssen wir nach 1815 zur Kenntnis nehmen:
»(…) In Wirklichkeit erlebte die nun auch durch die Teilnahme an der Verteidigung des Vaterlandes mögliche Integration und bürgerliche Gleichstellung in der Zeit nach 1815, nach der endgültigen Niederlage Napoléons, einen Rückschlag. (…)«
(Vergl. »Eisernes Kreuz und Davidstern«, Die Geschichte Jüdischer Soldaten in Deutschen Armeen, Hg. M. Berger, trafo verlag, 2006, S. 68)
Wir hatten bereits gesehen, dass der im Zuge des Wiener Kongresses gegründete Deutsche Bund gestattete, dass Staaten mit »französischer Verfassung« (Rheinbundstaaten, Hansestädte, norddeutsche Staaten) die den Juden bereits zugestandenen Rechte wieder entziehen konnten. Der Preußenkönig, der Feldzugteilnehmern, die sich bewährt hatten, sogar Staatsanstellungen versprach, brach sein Versprechen
»(…) Die beiden Verordnungen vom 3. und 9. Februar 1813 gaben den Juden in größerer Zahl die Möglichkeit, in das preußische Heer einzutreten. Sie stellten allen Freiwilligen eine vorzügliche Berücksichtigung bei der späteren Zivilanstellung durch den Staat in Aussicht, soweit sie hierfür qualifiziert waren. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 53)
Da in den Jahren 1813 bis 1815 etliche Landwehrsoldaten und Freiwillige sogar zu Offizieren avancierten, war dieser Wortbruch des Souveräns von besonderer Tragweite. In verschiedenen Ausschlussverfahren vom Staatsdienst oder Versorgung von Invaliden und bedürftigen Juden revidierten Hardenberg und nachfolgende Ministerien in den Folgejahren bald gegebene Zusagen. Sogar Kriegsminister von Boyen, Kampfgefährte Clausewitz´, entschied sich 1818 zur Revision zugesagter Wertschätzungen. Selbst einmal zugesicherte Pensionen und Sonderzulagen verwehrte Kriegsminister von Boyen ab diesem Zeitpunkt.
»(…) Diese Zulage lehnte nun aber Boyen im Februar 1818 entschieden ab. Seine Argumentation zeigt eine völlige Abkehr von den im Vorjahr vertretenen Grundsätzen. […] Es ist unbekannt, was Boyen innerhalb von drei Monaten bewog, seine frühere Position derart zu desavouieren. Offenbar ließ er sich vom königlichen Willen überzeugen, der von Anfang an auf den Ausschluß der Juden gerichtet war. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 58)
Gleichwohl kam es zu sonderbaren Erscheinungen, die heute sehr schwer zu verstehen sind:
»(…) Immerhin zog man es trotz angespanntester Finanzen vor, einem jüdischen Invaliden Pension zu gewähren, als ihn für seine Arbeit im Staatsdienst zu entlohnen. Die Abneigung gegen jüdische Beamte muß groß gewesen sein, wenn sie sogar über die Notwendigkeit, Geldgeschenke machen zu müssen, triumphierte. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 59)
Wir können uns vorstellen, was für eine Verunsicherung in den Ministerien herrschte, wenn die führenden Minister praktisch über Nacht bisher gültige Grundsätze der preußischen Judenpolitik widerriefen und regelwidrig auslegten.
Die Frage, die uns nun bewegt, lautet: War unserem Carl von Clausewitz dieser offensichtliche Wortbruch bekannt, und wie rezipierte er dann diese Entwicklung? Immerhin war er nunmehr seit dem 09.05.1818 Direktor der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin. Ohne Einfluss auf die vorherigen Ereignisse zwar, aber nahe dran, weil sich der Restaurationsprozess noch über einige Jahre hin neben ihm vollzog. Dort in Berlin wird es Clausewitz nicht entgangen sein, wie sich die alte konservative Hofpartei gegen seinen alten Kampfgefährten und andere noch verbliebene Reformer sammelte.
Bereits im Jahr 1817 informierte Gneisenau seinen jungen Freund Clausewitz am 6. April in einem Brief aus Berlin über Intrigen gegen Hardenberg, die sich auch gegen ihn selbst richteten. Gneisenau, unglücklich über seine Berufung in den Preußischen Staatsrat, die seine Familienruhe störte, schrieb:
»(…) Ich war so glücklich mit meinen Kindern! Jetzt ruft man mich und ich kann nicht verweigern zu kommen. All das verächtliche Gerede von meiner der Regierung feindseligen mißvergnügten Stimmung würde neuen Schwung erhalten haben. Dem wollte ich mich nicht ferner preisgeben und somit gehorchte ich. (…)«
Weiter schildert Gneisenau die Niederträchtigkeiten um Staatskanzler Hardenberg, der zu dieser Zeit auch nicht gut auf Gneisenau selber zu sprechen war, was er diesem jedoch nicht übel nahm.
»(…) Im Publikum spricht man, er habe gegen meine Hierherberufung gearbeitet, eine andere Partei hat, wie ich weiß, dasselbe getan. Möchte es doch beiden gelungen sein! Auch gegen den Kriegsminister will man mich mißtrauisch machen. Man redet davon, daß dieser seine Stelle verlieren werde, und Knesebeck ihn ersetzen. Die zeitherigen Armeegrundsätze sind ihrem Untergang nahe, man kämpft von vielen Seiten gegen sie. (…)«
(Vergl. »Gneisenau ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griewank, Köhler & Amelang/Leipzig, S. 351)
Ob die drei Männer Boyen, Gneisenau und Clausewitz sich im Zusammenhang mit den Verwirbelungen am Hofe und in der Regierung über Fragen der Gleichbehandlung der Juden mit der preußischen Bürgerschaft ausgetauscht haben, ist nicht überliefert, aber möglich. Dabei nahmen alle drei Männer in dieser Zeit einen unterschiedlichen Status ein. Gneisenau, nach seinem überraschenden Rücktritt vom Kommando in Koblenz, zog sich vorübergehend privat zurück. Berufen in den Staatsrat, war er im Grunde ohne nennenswerte Wirkung auf das Militärwesen. Clausewitz, zum Direktor der Kriegsschule in Berlin berufen, war praktisch – ohne Einfluss auf Lehre und Ausbildung junger Offiziere des Heeres – auf ein »Abstellgeleis« geschoben.
Während Clausewitz in diesen Jahren von 1818 bis 1830 an seiner Kriegstheorie arbeitete, war er wahrscheinlich auch kaum in Staatsangelegenheiten gefragt. Boyen hingegen, der sich immer wieder auch mit der sogenannte Polnischen Frage beschäftigte, trug in der Zeit als Kriegsminister die Hauptlast der Auseinandersetzungen mit der konservativen Hofpartei. Rolle und Wirken Boyens wurde jedoch in der Geschichtsschreibung vielfach unter Wert dargestellt.
»(…) Es ist ein seltsames Bild, das sich bisher über Boyen bietet. In unserer Zeit wird er gelegentlich hoch gepriesen. Franz Schnabel nannte 1955 seine Heeresreform eine „weltgeschichtliche Tat“. Kürzlich wurde gesagt, neben Scharnhorst und Clausewitz sei Boyen der „bedeutendste preußische Heeresreformer“ gewesen, er habe das preußische Heer „mit Kantischem Geist erfüllt“. Was wir von ihm in der Literatur erfahren können, ist allerdings lückenhaft und einseitig. (…)«
(Vergl. »Hermann von Boyen und die polnische Frage«, Denkschriften von 1794 bis 1846, Hg. H. Rothe, Böhlau, 2010, S. 9)
Ermüdet von den fortwährenden Querelen am Hofe des Königs von Preußen, reichte Boyen am 8. Dezember 1819 seinen Abschied ein. Eine der Ursachen dafür war wohl die Absicht des Königs, die Organisation der bestens bewährten Landwehr zu ändern. Die Hofpartei mit einer starken Gruppe um den Herzog von Mecklenburg (*1785; †1837) wendete sich gegen die liberalen Bestrebungen der Reformer um Boyen, die die Rolle des Bürgertums im Heer stärken wollten und unterstellte immer wieder »Jakobinertum«.
«(…) Die Reaktion benutzte militärtechnische Einwände – der Ausbildungsstand der Landwehr und ihre organisatorische Verklammerung mit der „Linie“ war mangelhaft – und gewann den König, gegen den Kriegsminister und General. (…)«
(Vergl. »Deutsche Geschichte 1800 – 1866«, Hg. Th. Nipperday, Verlag C. H. Beck, 1983, S. 278)
Die Änderungen, die der König anstrebte, sahen vor, dass die Landwehr zukünftig in die Linie eingegliedert werden sollte und somit ihre Selbstständigkeit verlieren würde. Boyens Versuch, ein »Landwehr-Gesetz« auf den Weg zu bringen, war damit gescheitert. Die Landwehr-Frage war aber offensichtlich für Boyen ein Vorwand, um eine für ihn weitaus wichtigere Frage nicht mit verantworten zu müssen.
»(…) Die Landwehr-Frage war tatsächlich nur ein äußerer, eigentlich geringer Anlass für Boyens Rücktritt, unmittelbar aus seiner dienstlichen Zuständigkeit. Viel wichtiger waren die beiden politischen Hauptgründe, die aus den Karlsbader Beschlüssen herrührten: die Frage der Souveränität des Preußischen Staates, […] und sodann die Verfassungsfrage. (…)«
(Vergl. »Hermann von Boyen und die polnische Frage« Denkschriften von 1794 bis 1846, Hg. H. Rothe, Böhlau, 2010, S. 150)
Der Reformer und Staatsmann Boyen sah also nicht nur die militärischen Probleme seiner Zeit, sondern sorgte sich um die Souveränität des Staates gegenüber möglicher Feinde, aber auch um den Kreis zeitlicher Verbündeter sowie die Verfassungsfrage. (Vergl. Denkschrift Boyens von 1817, betr. eine Verfassung für Preußen) Beides als Garant für die innere Sicherheit Preußens. Am 25. Dezember erhielt er seine Entlassung mit Kabinettsorder. Der König kürzte Boyens Pension um die Hälfte. Mit Boyen verließen nahezu zeitgleich Humboldt, Beyme und Kampfgefährte Grolmann den preußischen Dienst.
»(…) Das war ein Sieg Hardenbergs, aber ein Pyrrhussieg, denn jetzt hatten die Verfassungs- und Reformgegner in der Regierung endgültig die Mehrheit. Die Entlassung Humboldts markiert das Ende der Reformära in Preußen. (…)«
(Vergl. »Deutsche Geschichte 1800 – 1866«, Hg. Th. Nipperday, Verlag C. H. Beck, 1983, S. 278)
Der jüdische Fahneneid
Noch in der Dienstzeit Boyens als Kriegsminister vollzog sich eine bedeutende Novelle des Fahneneides für jüdische Soldaten. Das Grundmuster des hier in unserer Betrachtung im Zusammenhang mit der Causa Meno Burg zitierten Fahneneides wird auch nach 1815 beibehalten. Die Besonderheit, dass in den Befreiungskriegen für jüdische Soldaten kaum rechtsverbindliche Eidesformeln vorkamen, rief nun aber Widerspruch hervor.
»(…) Bei der Einstellung vor und während der Befreiungskriege legte man auf die Formalitäten des Eides nur geringen Wert. Jedenfalls wußte man nach 1815 nicht mehr, ob die jüdischen Soldaten überhaupt vereidigt worden waren. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 105)
Hinzu kamen die Probleme bei der Bewältigung vielschichtiger Schwierigkeiten, die sich aus dem Gebietszuwachs für Preußen nach 1815 ergaben. Im Ergebnis des Wiener Kongresses erhielt das preußische Königreich die Provinz Schwedisch-Pommern, den nördlichen Teil des sächsischen Königreiches, die Provinz Westfalen, die Rheinprovinz und die ehemalige Provinz Posen.
In allen Neuzugängen herrschten unterschiedliche Gesetze, die sich auch im Verhältnis zu den Juden widerspiegelten. Das betraf auch Eidesformeln für Soldaten allgemein und für jüdische im Besonderen. Zu beachten ist hier der Umstand, dass in den neuen Gebieten die Regeln des Edikts von 1812 entgegen ursprünglichen Absichten nicht eingeführt worden sind.
(Vergl. »Betrachtungen über die Verhältnisse der jüdischen Unterthanen der preußischen Monarchie«, Hg. G. Riesser, Altona, 1834)
In den Provinzen Brandenburg, Pommern, Schlesien sowie in Ost- und Westpreußen galt das alte Edikt. Die preußische Regierung tat sich daher viele Jahre schwer in dem Bemühen, die unklare Rechtslage zu lösen. Wie wir im Verlaufe unserer Darstellung bereits festgestellt haben, brach die in den Befreiungskriegen gewachsene Einheit zwischen Monarchie und Volk nach 1815 sehr schnell wieder auseinander. In den Strudel der Konflikte geriet auch der Fahneneid, der
»(…) damit zum Symbol der Auseinandersetzungen zwischen den liberalen und restaurativen Kräften um die Grundentscheidung über das Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung. (…)«
wurde.
(Vergl. »Der Fahneneid« Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Sven Lange, Edition Temme, 2002, S. 48 und Schieder, Der Fahneneid als politisches Problem, S. 23)
In den preußischen Behörden, namentlich im Kriegsministerium, scheute man sich, eine entsprechende Formel für einen Fahneneid vorzulegen, der die Besonderheiten des Judentums berücksichtigte. Der kardinale Streitpunkt waren die religiösen Fragen. Die christlichen Soldaten schworen auf die Bibel mit dem Zusatz am Ende des Eides »So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum.«
Wie aber sollte das für den jüdischen Soldaten klingen? Sollte der jüdische Soldat die Hand auf die hebräische Bibel legen? Fragen, die die preußischen Behörden bewegte, aber auch die jüdische Geistlichkeit. Regeln waren zwingend notwendig, da in verschiedenen jüdischen Gemeinden seltsame Verfahrensweisen üblich waren.
»(…) In Ostpreußen richtete aber weiterhin ein jüdischer Beamter eine besondere Ermahnung an den Schwörenden, in der er ihm androhte, er werde im Falle des Eidbruches »vom Teufel geholt« und stehenden Fußes vom »Donnerwetter erschlagen werden«. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 105)
Das rief den Widerstand des Vorkämpfers der jüdischen Emanzipation, David Friedländer (*1750, †1834), hervor, der eine einfache Eidesformel vorschlug.
»(…) In einem umfangreichen Gutachten übte David Friedländer an dieser Praxis scharfe Kritik. Er verwarf schlechthin alle bisher beobachteten Zeremonien und Kautelen [Ableistung des Eides in der Synagoge, Anwesenheit von Gelehrten und Zeugen, das Händewaschen und die Eidesformel]. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 105 bis 106)
Die Vorschläge Friedländers fanden jedoch in der preußischen Bürokratie keinen wirklichen Widerhall. Schlimmer noch:
»(…) Es wurde im Gegenteil neu eingeführt, dem Schwörenden eine Tafel mit den hebräischen Buchstaben des Wortes „Jawe“ vorzuhalten. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 106)
Boyen lehnte diese Art des Eides ab und schlug vor, lediglich die Worte »durch Jesum Christum« zu streichen. Hier hatte Boyen erstaunlicherweise gerade bei namhaften Juden Verbündete. Im Jahr 1818 reichte der Berliner Rabbiner Meyer Simon Weil (*1744; †1826) ein Gutachten ein, das sich mit Inhalt und Form des Eides jüdischer Soldaten befasste.
»(…) Auch er hielt im Grunde einen einfachen Eid ohne jede Formalität und ohne Thora nach dem Gesetz für ausreichend, gestand aber die Beibehaltung der bisherigen Übung (das Anfassen der Thora bzw. Tphilim) zu. Als eine Vorsorgemaßnahme für den »gemeinen Haufen« schlug er vor, der Schwurformel eine spezielle Ermahnung durch den Rabbiner vorausgehen zu lassen, deren Text er ebenfalls einreichte. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 108 bis 109)
Der Rabbiner Weil räumte in seinem Gutachten ein, dass wegen der Wahrung der Moral und des Gesetzes zu beachten sei, dass der »gemeine Haufen« von Pflicht, Gesetz und Religion nicht immer die wahren Begriffe hat. Weil schlug daher unter dem 1. August 1818 eine Ermahnungsformel vor, die wir im Fahneneid für jüdische Soldaten wiederfinden. Der König von Preußen erließ daraufhin am 30. Oktober 1819 – nach einem Jahr der Begutachtung – die dementsprechende Kabinettsorder an den Kriegsminister Boyen.
In der K. O. lesen wir folgende vorangestellte Präambel für den allgemeinen Fahneneid:
»(…) Ich N. N. schwöre, ohne die mindeste Hinterlist und Nebengedanken, auch nicht nach meinem etwaigen darin liegenden Sinn und Auslegung der Worte, sondern nach dem Sinn des Allmächtigen und dessen Gesalbten, unsers theuren Königs, bei dem Namen des heiligen allmächtigen Gottes, daß ich Sr. Majestät dem Könige von Preußen etc. etc. (…)«
(Vergl. »Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämtlichen Landesteilen des Preußischen Staates«, Hg. Rönne & Simon, Breslau, G. P. Aderholz, 1843, S. 102)
Der nachfolgende Teil des Eides war im gleichen Wortlaut zu schwören wie durch alle anderen Soldaten christlichen Glaubens. Lediglich »Jesum Christum«, wie von Boyen vorgeschlagen, entfiel und schloss mit »So wahr mir Gott helfe«.
Noch kurz vor seiner Entlassung setzte Kriegsminister Boyen die Eidesformel am 1. Dezember 1819 in Kraft. Mit den vorangestellten Sätzen des Schwures wurden das ganze Misstrauen und die Zweifel an der moralischen Zuverlässigkeit jüdischer Soldaten durch den preußischen Staat und seine Militärbehörde – hier auch durch den Reformer von Boyen – offensichtlich. Wir erkennen hier eine gewisse Konnexion zwischen jüdischen Geistlichen und preußischer Regierung. Das ist schwer verständlich, wenn wir vorangegangene Schilderungen des Betragens jüdischer Soldaten in den Befreiungskriegen rekapitulieren.
Darüber hinaus ordnete F. W. III. an, dass der »Staatsminister des Kultus« vor der eigentlichen Vereidigung eine Vorbereitung zur Ableistung des Eides in einer gottesdienstlichen Versammlung zu veranlassen hätte. Hier ein Auszug des Textes der genannten Vorbereitung:
»(…) Das Formular zur Vorbereitung zum Eide, welche in Verfolg vorstehenden Circulairs sämtlichen Truppentheilen mitgetheilt worden, lautet: „Wisse daß dieser Eid nach den Aussagen aller Rabbinern eben so heilig und bündig ist, als wäre er in der Synagoge und in Gegenwart der Thora vollzogen worden, und nichts kann die Strafe des Allmächtigen abwenden, wenn er verletzt werde.“ […] und die Strafe des Himmels ist unausbleiblich, wenn diese Pflichten noch bei dem heiligen Namen Gottes beschworen werden, und man nachher meineidig werde. (…)«
(Vergl. »Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämtlichen Landesteilen des Preußischen Staates«, Hg. Rönne & Simon, Breslau, G. P. Aderholz, 1843, S. 103)
Hier erkennen wir wesentliche Bestandteile der damaligen preußischen Religionspolitik, die maßgeblich auch vom König F. W. III. beeinflusst war.
«(…) König Friedrich Wilhelm III. fühlte sich von seiner Jugend an eng an das Christentum gebunden und sprach dies auch in der Öffentlichkeit rückhaltlos aus. […] Er erkannte den absoluten Wahrheitsanspruch des Christentums und sah in ihm den wichtigsten Pfeiler staatlicher Macht, bürgerlicher Ordnung und moralischer Zuverlässigkeit. Ein solches Bekenntnis ließ sich in seiner Stellung gewiß nur schwer mit wirklicher Gewissensfreiheit für die „andern“ vereinbaren. Es konnte auch bei echtem Willen, Toleranz zu üben, nicht ohne erheblichen Einfluß auf die Haltung gegenüber den Juden bleiben. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübingen, 1968, S. 89 bis 90)
Wie sollten da die noch verbliebenen Reformer, allen voran der »noch« Kriegsminister von Boyen und die in einer »Warteschleife« verharrenden Männer, Gneisenau und Clausewitz in irgendeiner Art Einfluss nehmen? Schwer vorstellbar. Obgleich für diese alten Soldaten vor allem Fragen der Moral, des Vertrauens und der Zuverlässigkeit, die bei Juden in Zweifel gezogen waren, größte Bedeutung hatten. Im Schrifttum Clausewitz´finden wir die Frage nach der Moral und Zuverlässigkeit gestellt und beantwortet. Bei seiner Beurteilung des menschlichen Geistes im Krieg schlussfolgert er in »Vom Kriege«:
»(…) Die Kriegskunst hat es mit lebendigen und moralischen Kräften zu tun, daraus folgt, daß sie nirgends das Absolute und Gewisse erreichen kann; es bleibt also überall dem Ungefähr ein Spielraum, und zwar ebenso groß bei den Größten wie bei den Kleinsten. Wie dieses Ungefähr auf der einen Seite steht, muß Mut und Selbstvertrauen auf die andere treten und die Lücke ausfüllen. So groß wie diese sind, so groß darf der Spielraum für jenes werden. Mut und Selbstvertrauen sind also dem Krieger ganz wesentliche Prinzipe. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957,1. Buch, Kap. 1, 22, S. 32)
Hier räumt Clausewitz mögliche Friktionen im Handeln des Menschen im Kriege ein. Die Rolle des Fahneneides an sich zu dieser Zeit stellte eine Treueverpflichtung des «soldat citoyen», des Bürgersoldaten dar, die somit eine staatsbürgerliche Verpflichtung gegenüber Staat und Monarch beinhaltete. Hier war es also notwendig, den Soldaten auf seinen Dienst vorzubereiten, unabhängig von seiner Konfession. Das schien aber gegenüber den Juden trotz aller vorwiegend positiven Erfahrungen besonders explizit gegeben. So wie wir bisher erkennen können, deutet alles darauf hin, dass die Reformer einschließlich Clausewitz die Religionspolitik des Königs und damit auch die Eidesformel samt dazugehöriger Vorbereitung rezipierten.
Dass hier im Eid und in der Vorbereitung moralischer Druck auf den jüdischen Soldaten ausgeübt wurde, überrascht nicht. Denn trotz des bis 1815 anerkannten guten Dienstes, den sie nachweislich leisteten, wurden immer wieder wesentliche Charaktereigenschafte der Juden in Zweifel gezogen. Christian Wilhelm Dohm (*1751; †1820) schildert in seinem Werk »Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden« von 1781, unterstellte negative Eigenschaften des jüdischen Charakters, die ständig durchaus positiven gegenüber stünden:
»(…) die übertriebne Neigung der Nation zu jeder Art von Gewinn, ihre Liebe zum Wucher, zu betrügerischen Vortheilen (…)«
(Vergl. »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden«, C. W. Dohm, 1781, Bd. 1 , S. 96, in »Der Judeneid im 19. Jahrhundert vornehmlich in Preußen«, Hg. Th. Vormbaum, BWV, 2006, S. 15 bis 16)
Dohm fügt jedoch sogleich hinzu, diese Vergehungen seien:
»(…) nicht eigenthümliche Modificationen des jüdischen Nationalcharakters, sondern blos der drückenden Lage, in der sich die Juden izt befinden, beyzumessen, und zum Theil Folgen des Gewerbes, auf das man sie allein eingeschränkt (habe) (…)«(Dohm aus Verbesserungen)
(Vergl. »Der Judeneid im 19. Jahrhundert vornehmlich in Preußen«, Hg. Th. Vormbaum, BWV, 2006, S. 15 bis 16)
Dohm unterstreicht in seinem Werk besondere Vorzüge, die Juden von alters her auszeichneten. So führte er die Anhänglichkeit an den uralten Glauben ihrer Väter an, der dem Charakter der Juden Festigkeit und Moralität verleihen würde. Sich darauf zu berufen, spiegelt sich auch im oben erwähnten Formular des Eides und dessen Vorbereitung wider. Deutlich beziehen sich preußische Beamte und deren jüdische Zuarbeiter, den Text betreffend, hier auf die Unterschiede zwischen dem »Alten und Neuen Testament«.
Das Alte Testament entspricht dem Tenach, der jüdischen Bibel, in der Gott strafend erscheint, während das Neue Testament die Gnade Gottes gegenüber Sündern zeigt. Somit nimmt die Strafandrohung in Erwartung der Verfehlung in der Eidesformel der Juden einen signifikanten Raum ein.
Für christliche Soldaten erschien das nicht notwendig, und man beschränkte sich lediglich auf den Verweis, die Kriegsartikel (siehe Anlage 1) zu befolgen und sich so zu betragen, wie es einem rechtschaffenen, unverzagten, pflicht- und ehrliebenden Soldaten geziemt. Die Kriegsartikel hatten für den Soldaten die Bedeutung eines Militärstrafgesetzbuches.
(Vergl. »Der Fahneneid«, Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Sven Lange, Edition Temme, 2002, S. 70)
Zu erwähnen wäre noch, dass in den preußischen Kernprovinzen auch andere Glaubensgemeinschaften wie die Mennoniten und Katholiken gesondert behandelt worden sind. Die Soldaten aus der Provinz Posen, die mehrheitlich polnisch sprachen, schworen in ihrer Muttersprache. In allen Fällen waren in Vorbereitung und Ableistung des Eides bei jüdischen Soldaten militärische Vorgesetzte und Rabbiner anwesend. So wies der Brigadekommandeur Generalmajor Ludwig Gustav von Thiele (*1781; †1852) , der kein Befürworter der Judenemanzipation war, die Berliner Regimenter am 5. August 1820 an:
»(…) zu jeder solchen Vereidigung einen Offizier oder Unteroffizier, wenn kein Offizier dazu disponibel sein sollte, als Zeugen zu kommandieren, so daß es keines Attestes des Rabbiners über die richtig abgehaltene Vorbereitung bedürfe. (…)«
(Vergl. »Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämtlichen Landesteilen des Preußischen Staates«, Hg. Rönne & Simon, Breslau, G. P. Aderholz, 1843, S. 103)
Die Vereidigung des jüdischen medizinischen Personals des preußische Heeres war noch um einiges diffiziler (siehe Anlage 2). Dieses hier darzustellen würde den Rahmen unserer Arbeit sprengen. Aber das Misstrauen gegenüber jüdischen Ärzten muss besonders groß gewesen sein!? Daher griff man nicht einfach auf den Text des Buches Assaf (Antiker med. Verhaltenskodex für jüdische Ärzte aus dem 5. Jhd. n. Chr.) zurück, der praktisch dem Eid des Hippokrakes gleichzusetzen war, sondern schuf eigene restriktive Formulierungen. Wenngleich des Königs Worte im »Ortelsburger Publicandum« von 1806, die preußischen Chirurgi betreffend – wir verwiesen bereits darauf – ebenfalls an Deutlichkeit nichts vermissen lassen.
(Vergl. dazu »Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämtlichen Landesteilen des Preußischen Staates«, Hg. Rönne & Simon, Breslau, G. P. Aderholz, 1843, S. 103 bis 104)
Nach 1819 gab es immer wieder Versuche von jüdischer Seite, das Procedere des Eides für Juden zu verändern. Namentlich Friedländer versuchte mehrfach erfolglos, Änderungen zu erwirken.
»(…) Er beklagte, daß die angenommene Formel Zweifel an der moralischen Zuverlässigkeit und Lauterkeit des Schwörenden hervorrufen müsse. Sie sei daher nicht nur »unkräftig und zweckwidrig«, sondern auch »schädlich«. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr, Tübingen, 1968, S. 110)
Eine Revision des »Judeneides« gelang bis in den Vormärz (Epoche der deutschen Geschichte zwischen der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848) nicht mehr.
»(…) Jüdische und protestantische Orthodoxi hatten zusammengewirkt, um die traditionellen Auffassungen über den jüdischen Eid zu sanktionieren. (…)«
(Vergl. »Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr, Tübingen, 1968, S. 110)
Bei allem, was wir heute wissen, wäre es unter Mitwirkung der in »Deckung« gegangenen Reformer um Clausewitz wahrscheinlich möglich gewesen, das Problem »Judeneid« zu lösen. Das Verständnis über die entscheidende Rolle der Moral des Soldaten im Kriege, hier des jüdischen, war bei den Protagonisten der Reformen in Preußen vorhanden. So aber war hier durch deren »Schweigen« bereits ein Grundstein des Scheiterns der Emanzipation der Juden in Preußen und somit auch in Deutschland gelegt. Hier begann womöglich der Irrweg in der Entwicklung Preußens.
Friedrich Meinecke (*1862; †1954) – ein altmärkischer Historiker – schilderte diesen Zusammenhang folgendermaßen:
»(…) Eine volkstümliche Heeresverfassung, wie sie der Kriegsminister von Boyen von 1814 – 1819 einst erstrebte, wäre wohl möglich gewesen und hätte sich auch auf dem Schlachtfeld bewähren können. Hier sehe ich also einen wirklichen Irrweg unserer Entwicklung.(…)«
(Vergl. Friedrich Meinecke, »Zur Theorie und Philosophie der Geschichte«, Hg. E. Kessel, K.F. Koehler Verlag, 1965, S. 207)
Die Vereidigung der jüdischen Soldaten und Mediziner war zweifelsohne ein wesentlicher Bestandteil der angestrebten neuen Verfassung des Heeres nach 1815.
Hier noch einmal Clausewitz zur Rolle moralischer Größen:
»(…) Noch einmal müssen wir auf diesen Gegenstand zurückkommen, den wir im dritten Kapitel des zweiten Buches berührt haben, weil die moralischen Größen zu den wichtigsten Gegenständen des Krieges gehören. Es sind die Geister, welche das ganze Element des Krieges durchdringen, und die sich an den Willen, der die ganze Masse der Kräfte in Bewegung setzt und leitet, früher und mit stärkerer Affinität anschließen, gleichsam mit ihm in eins zusammenrinnen, weil er selbst eine moralische Größe ist. Leider suchen sie sich aller Bücherweisheit zu entziehen, weil sie sich weder in Zahlen noch in Klassen bringen lassen und gesehen oder empfunden sein wollen. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 3. Buch, Kap. 3, S. 165)
Ungeachtet dessen haben jüdische Soldaten in den nachfolgenden Kriegen 1864/66, 1870/71 und 1914 bis 1918 ihren Eid erfüllt und überwiegend tapfer gekämpft. Eine echte Wertschätzung des Deutschen Volkes war ihnen jedoch bis in die jüngste Vergangenheit nie zuteil geworden. Im Gegenteil, viele Träger des Eisernen Kreuzes aus WK I wurden durch die Nationalsozialisten in der »Shoa« liquidiert. Wir erinnerten bereits an den Träger des EK I im 1. Weltkrieg, Julius Philippson, der im Jahr 1943 in Auschwitz ermordet wurde.