Teil 2
Kehren wir zum Ausgangspunkt der Betrachtung zurück und beurteilen das Wesen des Handelns Xenophons und seiner Getreuen, so erkennen wir das Wechselspiel von Moral und Ethik im Handeln der Soldaten. Die Geschichte des »Zuges der Zehntausend« spiegelt in vielen einzelnen Episoden den Kampf der Griechen um moralisch und ethisch gutes Handeln wider.
(Vergl. »Xenophon Anabasis Der Zug der Zehntausend«, Phillipp Reclam, 1958)
Was letztendlich in der Methapher »Das Meer, das Meer …« widergespiegelt wird. Wobei auch zu erkennen ist, dass gerade moralisches und ethisches Handeln im Kampf nicht immer der Theorie folgt oder folgen kann.
Zu allen Zeiten, wie auch in der Clausewitz‘schen – der des frühen 19. Jhd. – galten und gelten die jeweiligen temporären Moralauffassungen der einzelnen Völker. Allgemeingültig und zeitlos kann jedoch folgende Sicht für Soldaten z. B. angenommen werden.
»(…) Es gibt geschichtlich eine Moral der Tapferkeit, eine Moral des Gehorsams, eine Moral des Stolzes, desgleichen der Demut, der Macht, der Schönheit, der Willensstärke, der Mannestreue, des Mitleids. Von aller positiven Moral zu unterscheiden ist aber die Ethik als solche mit ihrer allgemeinen, idealen Forderung des Guten, wie sie in jeder speziellen Moral schon gemeint und vorausgesetzt ist. Ihre Sache ist es zu zeigen, was überhaupt „gut“ ist. (…)«
(Vergl. Ethik, Hg. Nicolai Hartmann, De Gruyter & Co, 1962, S. 37)
Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, wie Clausewitz die Rolle des menschlichen [soldatischen] Geistes in seinem Hauptwerk »Vom Kriege« später ins Spiel bringt und den Menschen als Subjekt des Kampfes sieht.
»(…) Die Kriegskunst hat es mit lebendigen und moralischen Kräften zu tun, daraus folgt, daß sie nirgends das Absolute und Gewisse erreichen kann; es bleibt also überall dem Ungefähr ein Spielraum, und zwar ebenso groß bei den Größten wie bei den Kleinsten. Wie dieses Ungefähr auf der einen Seite steht, muß Mut und Selbstvertrauen auf die andere treten und die Lücke ausfüllen. So groß wie diese sind, so groß darf der Spielraum für jenes werden. Mut und Selbstvertrauen sind also dem Krieger ganz wesentliche Prinzipe. (…)«
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 1. Buch, Kap. 1, S. 32)
Clausewitz, ein Schüler Scharnhorsts, rezipierte hier auch offensichtlich dessen Schrift »Entwicklung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutionskriege und insbesondere in dem Feldzuge von 1794«. In diesem Werk analysierte Scharnhorst seine Erlebnisse aus der Teilnahme am Krieg gegen Frankreich von 1793 bis 1795. Neben der Quelle des Kriegsglücks der Franzosen stellt er vor allem den Ursprung der eigenen Niederlagen dar.
»(…) aber wenn 5 bis 6 Armeen in 5 Jahren 10 Feldzüge fast immer unglücklich endigen; […] dann können nicht bloß zufällige Ereignisse und nicht bloß einzelne durch Bestechung, Uneinigkeit, Kabalen oder Unwissenheit entstandene Fehler die Ursache des Unglücks sein; dann muß ihre Quelle in allgemeinern Übeln liegen. (…)«
(Vergl. »Scharnhorst Ausgewählte militärische Schriften«, Hg. Usczek und Gudzent, MV, 1986, S. 98)
Als eine der Ursachen stellte Scharnhorst die Wirkungsweise der völlig veränderten Fechtweise der revolutionären Franzosen dar. Die frei nach der Idee des Grafen Lazare Nicolas Marguerite Carnot (*1753; †1823) mit dem Leitsatz »Levée en masse« das Schlachtfeld betraten und mit der Idee – »Agir toujours en masse« – »in Massen handeln, keine Manöver mehr, keine Kriegskunst, sondern Feuer, Stahl und Vaterlandsliebe«, von Sieg zu Sieg eilten.
(Vergl. M. Howard »Krieg in der europäischen Geschichte: vom Mittelalter bis …«, S. 114)
Scharnhorst sah die Ursachen für die Sieghaftigkeit der Revolutionstruppen nicht nur in deren neuen Fechtweise, sondern vor allem durch deren moralische Überlegenheit, durch den Soldaten neuen Typs. Da Clausewitz als junger Gefreiten-Corporal mit seinen Kameraden am 6. Juni 1793 das Dorf Zahlbach vor Mainz stürmte – also Teilnehmer dieser Kriege war – kannte er diese Erscheinungen aus eigenem Erleben und konnte somit Scharnhorsts Darlegungen durchaus verstehen und verarbeiten.
Clausewitz hatte bereits in einer Reihe seiner früheren Schriften wie »Strategie aus dem Jahr 1804 mit Zusätzen von 1808 und 1809», »Bekenntnisschrift von 1812« sowie »Preussen in seiner großen Katastrophe« aus den Jahren 1823/24 die Bedeutung und Verknüpfungen der Auffassungen von Zweck, Ziel und Mittel, Strategie und Taktik sowie von Angriff und Verteidigung dargelegt.
Den Faktoren von Geist und Moral und deren Wirkungsweisen in den unterschiedlichen Ebenen der Truppen und in der Theorie allgemein, räumte Clausewitz dabei einen herausragenden Platz ein. Noch bevor Fichte seine Schrift über Machiavelli im Jahr 1807 niederlegte und Clausewitz anonym – als ein ungenannter Militär mit Sendschreiben an Fichte – im Jahr 1809 darauf reagierte, bezog er sich in seiner »Strategie aus dem Jahr 1804« auf den italienischen Philosophen. Clausewitz anonym an Fichte:
»(…) Machiavelli, der ein sehr gesundes Urteil in Kriegssachen hat, behauptet, daß es schwerer sei, eine Armee mit frischen Truppen zu schlagen, die eben gesiegt hat, als sie vorher zu schlagen. Er belegt dies mit mehreren Beispielen und behauptet ganz richtig, der errungene moralische Vorteil ersetze den Verlust reichlich. (…)«
(Vergl. »Clausewitz Strategie«, Hg. E. Kessel, Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg, 1937, S. 41)
Die Begriff vom »moralischen Vorteil« sowie »Geist der Truppen« – explizit in Clausewitz´»Preussen in seiner großen Katastrophe« erwähnt – begleiteten Clausewitz auch in seiner Kritik an Bülow (von 1805) bis hin in sein Hauptwerk »Vom Kriege«. Die kriegerische Tugend der kämpfenden Truppen, die von ihm als »moralische Potenz«*
*(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 3. Buch, Kap. 5, S. 171) bezeichnet wurde, war letztendlich der Garant der siegreichen Kriege Preußens gegen Napoléon in den Jahren 1813 bis 1815.
Die »Befreiungskriege« boten eine Reihe von überzeugenden Beispielen, die die moralische Kraft der neu geschaffenen Landwehr demonstrierten. Gneisenau berichtete Clausewitz darüber aus Goldberg unter dem 28. August 1813:
»(…) Mein teurer Freund. Wir haben vorgestern eine schöne Schlacht gewonnen; entscheidend, wie die Franzosen noch nie entscheidend eine verloren haben. […] Diese Schlacht ist der Triumph unserer neugeschaffenen Infanterie. […] Ein Landwehrbataillon v. Thiele ward von feindlicher Reiterei umringt und aufgefordert, sich zu ergeben. Es feuerte; nur ein Gewehr ging los. Dennoch ergaben die Landwehrmänner sich nicht; Nein! Nein! schrien sie, und stießen mit den Bajonetten. […] Nur das Geschrei der Streitenden erfüllte die Luft; die blanke Waffe entschied. (…)«
(Vergl. »Gneisenau Ein Leben in Briefen«, Hg. Dr. Karl Griwank, Koehler & Amelang/Leipzig, S. 246 bis 248)
Wobei der geniale Feldherr Gneisenau durchaus auch die Mängel dieser neuen Infanterie postulierte und auf teilweises fehlendes Stehvermögen der Landwehr hinwies. Die Reformer um Scharnhorst, Gneisenau u. a. – zu denen auch Clausewitz im erweiterten Sinne gehörte – konnten Rückschläge in der Präsenz der Landwehr im Kampf nie ganz ausschließen. Hier wirkten die Clausewitz´schen Friktionen, dargelegt in »Vom Kriege«, im 1. Buch, Kapitel 7 »Friktionen im Krieg«.
»(…) Sie [die Landwehr, Anm. Autor] stellte ein organisiertes Volksaufgebot dar, mit ungleichmäßiger, oft ganz mangelnder militärischen Ausbildung. Der natürliche Fehler einer solchen Truppe ist der Mangel an Zuverlässigkeit. Unmittelbar neben den Taten der höchsten Tapferkeit in Momenten einer glücklichen Anregung oder unter einem ungewöhnlich kräftigen Führer ist es vorgekommen, daß die Landwehrbataillone beim ersten Kanonenschuß die Waffen wegwerfend auseinanderstäubten. (…)«
(Vergl. Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Hans Delbrück, in Bd. 2, Verlag Stilke, Berlin, 1908, S. 352)
Im Verlaufe der Kampfhandlungen gelang es aber, durch kluge Führung der Truppen eine einzigartige kriegerische Tugend zu entwickeln, die das preußische Heer erfolgreich erscheinen ließ.
Gneisenau berichtete in einem Brief an die Gattin vom 18. Oktober 1813 [während der Schlacht bei Leipzig] aus Wetterwitz bei Leipzig, des Morgens 5 Uhr:
»(…) Schon vorgestern hat die Blüchersche Armee abermals einen herrlichen Sieg erfochten. … Die Tapferkeit der Truppen unterstützte auf das herrlichste unsere Anordnungen. Wir hatten uns in Bataillonsmassen aufgestellt. Das feindliche Geschütz wütete darin sehr. Unsere Landwehrbataillone taten herrlich. Wenn eine feindliche Kugel 10 bis 15 Mann darniederriß, riefen sie: Es lebe der König! und schlossen sich wieder in den Lücken über die Getöteten zusammen. (…)«
(Vergl. »Gneisenau ein Leben in Briefen«, HG Karl Griewank, Verlag Köhler & Amelang, S. 260)
Auf die Rolle und Bedeutung der Tugenden und des Enthusiasmus der Soldaten wird hier noch zurückzukommen sein. Wesentlich dabei muss die Rolle des Talentes des Feldherren gewürdigt werden, wie eingangs anhand Xenophons geschildert. Dabei ist nicht nur die Fähigkeit der Feldführung von Bedeutung, sondern auch – nicht minder wichtig – die Begabung zur Ausbildung der Truppen. Ausbildung und Führung der Truppen räumte Clausewitz wie Scharnhorst und Boyen einen herausragenden Platz ein. Beide Aspekte wurden als Grundvoraussetzung für die freie Entfaltung notwendiger kriegerischer Tugenden betrachtet.
»(…) Wie sorgfältig man sich also auch den Bürger neben dem Krieger in einem und demselben Individuum ausgebildet denken, wie sehr man sich die Kriege nationalisieren und wie weit man sie sich in einer Richtung hinaus denken möge, entsprechend den ehemaligen Kondottieris; niemals wird man die Individualität des Geschäftsganges aufheben können, und wenn man das nicht kann, so werden auch immer diejenigen, welche es treiben und solange sie es treiben, sich als eine Art Innung ansehen, in deren Ordnungen, Gesetzen und Gewohnheiten sich die Geister des Krieges vorzugsweise fixieren. (…)
(Vergl. »Vom Kriege«, Carl von Clausewitz, Verlag des MfNV, Berlin 1957, 3. Buch, Kap. 5, S. 169 bis 170)
Den Begriff »Innung« wählte Clausewitz bewusst als Metapher für einen anderen, den des »esprit de corps«, denn er war in diesem Sinne erzogen worden und nahm diesen für sich durchaus in Anspruch. Davon zeugt u. a. ein Brief an Marie vom 13. Dezember 1806, aus der Gefangenschaft geschrieben.
»(…) Wir drei jüngsten Brüder sahen uns also als Edelleute in der Armee angestellt, und zwar mein dritter Bruder nebst mir in einem Regimente [Prinz Ferdinand], in welchem nur Edelleute dienen konnten. (…)«.
(Vergl. »Carl und Marie von Clausewitz – Briefe – Ein Leben im Kampf für Freiheit und Reich«, Hg. Otto Heuschele, S. 57)