Teil XIX

Die nach 1815 offen­sicht­lich erfolg­los ver­lau­fen­de Eman­zi­pa­ti­on der Juden in Preu­ßen führ­te nahe­zu zwangs­läu­fig zu einer Iden­ti­täts­kri­se, die sowohl die christ­li­chen als auch die jüdi­schen Bür­ger Preu­ßens betraf. Aus­lö­ser des­sen waren vor­ran­gig die wirt­schaft­li­chen Pro­ble­me der über­wie­gen­den Mehr­heit des Vol­kes quer durch alle Schich­ten. Wie immer in der Geschich­te wur­den Schul­di­ge gesucht. In den bereits geschil­der­ten Hepp-​Hepp-​Krawallen offen­bar­te sich die Suche nach »dem Schul­di­gen«. Die­se »Suche« wur­de u. a. von Intel­lek­tu­el­len wie Jakob Fried­rich Fries(*1773; †1843) und Chris­ti­an Fried­rich Ruehs(*1781; †1820) befeu­ert, die bei­de natio­na­lis­tisch, xeno­phob und juden­feind­lich polemisierten.
(Vergl. »Die miss­glück­te Eman­zi­pa­ti­on – Wege und Irr­we­ge deutsch-​jüdischer Geschich­te«, Hg. J. H. Schoeps, Georg Olms Ver­lag, 2010, S. 156)

Beson­ders per­fi­de sticht hier das Wir­ken eines Vor­läu­fers des spä­te­ren Anti­se­mi­tis­mus her­vor, der sein Unwe­sen im Ber­lin der Jah­re 1815 bis in die 1820er Jah­re trieb. Die Rede ist hier von Hart­wig v. Hundt-​Radowsky(*1780; †1835), ein mehr als zwei­fel­haf­ter, Juden has­sen­der Publi­zist, der um 1819 den »Juden­spie­gel« ver­fass­te und ver­öf­fent­lich­te. In die­ser Schrift ver­un­glimpf­te er in 14 Kapi­teln jüdi­sche gesell­schaft­li­che Schich­ten. In Kapi­tel 12 die­ses Wer­kes, »Der Jude als Sol­dat«, dele­gi­ti­miert der Autor die jüdi­schen Sol­da­ten, tap­fe­re Kämp­fer für ihr Land gewe­sen zu sein. Somit auch die­je­ni­gen, die in den Befrei­ungs­krie­gen über­wie­gend stand­haft kämpf­ten. Die­ser v. Hundt-​Radowsky formulierte:

»(…) Von jeher haben sich die Juden nicht durch Muth, aber durch Feig­heit in ihren Krie­gen aus­ge­zeich­net. […] Feig­heit ist Grund­zug in dem Cha­rak­ter der Hebrä­er und offen­bart sich beson­ders im Krie­ge. […] Daher soll­te man ihnen in mili­tä­ri­schen Staa­ten am wenigs­ten das Bür­ger­recht ein­räu­men. […] Sie stre­ben bloß nach glän­zen­dem Metall und daher kann man sie wohl zu Spio­nen, aber nicht zu Vater­lands­vert­hei­di­gern gebrauchen. (…)«
(Vergl. »Juden­spie­gel« Ein Schand- und Sit­ten­ge­mäl­de alter und neu­er Zeit« Hg. H. v. H.-Radowsky, Würz­burg, 1819, S. 133 bis 137)

Mög­li­cher­wei­se reflek­tier­ten die Ver­fas­ser der Tex­te zur Ver­ei­di­gung der Juden im preu­ßi­schen Kriegs­mi­nis­te­ri­um des Jah­res 1819 auch die­se Schrift.

»Juden­spie­gel« Quel­le: bsb​-muen​chen​.de

Trotz der gemein­sa­men Erleb­nis­se in den Jah­ren der Befrei­ungs­krie­ge, die über­wie­gend posi­tiv waren, ent­wi­ckel­ten sich unter den preu­ßi­schen Mili­tärs Res­sen­ti­ments, um wei­ter bedin­gungs­los jüdi­sche Rekru­ten ein­zu­be­ru­fen. Hier­bei ging es nicht um den jüdi­schen Rekru­ten an sich, son­dern eher um die Absicht, »die Armee als Erzie­hungs­schu­le der Juden« zu instal­lie­ren. Ziel soll­te es sein, durch Bil­dung, Aus­bil­dung und Erzie­hung die Assi­mi­lie­rung der Juden hin zum Chris­ten­tum zu forcieren.

Adolph Fried­rich Carl Streck­fuß(*1778; †1844), ab 1819 Ober­re­gie­rungs­rat im preu­ßi­schen Innen­mi­nis­te­ri­um, dem der preu­ßi­sche Mili­tär­dienst als eines der wirk­sams­ten Mit­tel galt, um »jüdi­sche Eigen­tüm­lich­kei­ten« zu besei­ti­gen. Carl Streck­fuß

»(…) beton­te den Wert des Hee­res für die Juden als mora­li­sche, hygie­ni­sche, päd­ago­gi­sche und poli­ti­sche Anstalt. Es habe nicht nur eine mili­tä­ri­sche Ziel­set­zung, son­dern die­ne eben­so zur Beför­de­rung jedes ande­ren Staatszweckes. (…)«. 
(Vergl. »Juden­tum, Staat und Heer in Preu­ßen im frü­hen 19. Jahr­hun­dert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübin­gen, 1968, S. 115)

Ähn­li­che Inten­tio­nen wur­den auch von jüdi­scher Sei­te ver­folgt. Der west­fä­li­sche Rab­bi­ner von Werl, Levi Lazar Hell­witz(*1786; †1860), ver­öf­fent­lich­te 1819 eine Schrift, in der er den jüdi­schen Mili­tär­dienst nicht nur für mög­lich, son­dern auch für nötig hielt .

»(…) Die Garan­tie des Mili­tär­diens­tes sah er als eins der ers­ten Mit­tel, die Bil­dung der Juden zu erhö­hen und ihr Anse­hen in der Gesell­schaft zu heben, die Befrei­ung dage­gen als Stra­fe und Schan­de an. (…)«
(Vergl. »Juden­tum, Staat und Heer in Preu­ßen im frü­hen 19. Jahr­hun­dert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübin­gen, 1968, S. 116)

So wie die­se Gedan­ken auch in preu­ßi­schen Regie­rungs­stel­len teil­wei­se geteilt wur­den, ent­spra­chen sie auch den Scharnhorst’schen Ent­wür­fen von 1807 und 1808, die for­der­ten: »§1 Alle Bewoh­ner des Staa­tes sind gebo­re­ne Ver­tei­di­ger des­sel­ben«. Auch bei Boy­en, der sehr gro­ßen Wert auf Bil­dung und Erzie­hung der Sol­da­ten leg­te, muss­ten sie eigent­lich Anklang gefun­den haben. Gnei­se­nau und Clau­se­witz dürf­ten sich dem eben­falls nicht ver­wei­gert haben, wenn wir die ver­gan­ge­ne Zeit von 1812 bis 1815 betrachten.

In der Pra­xis der dama­li­gen Zeit offen­bar­te sich jedoch eine signi­fi­kan­te Unsi­cher­heit im Kriegs­mi­nis­te­ri­um, den Umgang mit jüdi­schen Rekru­ten betref­fend. Wir ver­wie­sen im Zusam­men­hang mit der Ver­ei­di­gung jüdi­scher Rekru­ten bereits dar­auf. Der trei­ben­de Keil hier war der preu­ßi­sche König selbst, der schon im Zusam­men­hang mit der Namens­ge­bung für die Juden zwei­fel­los Druck aus­üb­te (sie­he dazu Edikt von 1812). In Ber­lin ging man 1819 u. a. unver­se­hens gegen die Pra­xis gemein­sa­mer Schu­len vor.

»(…) Wei­ter ging die preu­ßi­sche Regie­rung im Jahr 1819 gegen einen Brauch vor, den sie ein Jahr­zehnt zuvor noch als Mit­tel zur Assi­mi­lie­rung der Juden selbst begrüßt hat­te. Weil es in Ber­lin nicht genug Grund­schu­len gab, konn­ten auch Kin­der von Chris­ten an der jüdi­schen Frei­schu­le in Ber­lin aus­ge­bil­det wer­den. Im Jahr 1819 wur­de dies ver­bo­ten. Die christ­li­chen Kin­der muss­ten die Schu­le sofort verlassen. (…)«
(Vergl.» Geschich­te der Juden in Preu­ßen (1750 bis 1820)«, A. A. Bruer, Cam­pus Ver­lag, 1991, S. 340)

Die sich offen­ba­ren­de »direk­te Umkehr der Argu­men­ta­ti­ons­wei­se« wur­de selbst von Boy­en gedul­det. Bei der The­ma­ti­sie­rung der Eides­for­meln für jüdi­sche Rekru­ten stell­ten wir schon ein­mal die Fra­ge nach Boyen.

»(…) Selbst aus­ge­spro­che­ne Reform­po­li­ti­ker wie Kriegs­mi­nis­ter Her­mann von Boy­en (1814 – 1819) fan­den an einer sol­chen Wen­dung wenig aus­zu­set­zen. Die Juden­eman­zi­pa­ti­on war auch für sie eine schwer zu begrei­fen­de Maß­nah­me gewe­sen, deren Frag­wür­dig­keit bestehen blieb. Auch Boy­en brach­te des­halb Kri­tik gegen die Eman­zi­pa­ti­on vor. Aller­dings tat er dies ver­söhn­li­cher und weni­ger hef­tig als die Reprä­sen­tan­ten der Reaktion. (…)«
(Vergl.» Geschich­te der Juden in Preu­ßen (1750 bis 1820)«, A. A. Bruer, Cam­pus Ver­lag, 1991, S. 341)

Eine Viel­zahl von Bei­spie­len von erneu­ten Dis­kri­mi­nie­run­gen doku­men­tie­ren den sich abzeich­nen­den, abwer­ten­den Umgang mit den eins­ti­gen jüdi­schen Kampf­ge­fähr­ten. Juden wur­de der Ein­tritt in Eli­te­trup­pen wie der Gar­de und den Kadet­ten­an­stal­ten ver­wehrt. Jüdi­schen Medi­zin­stu­den­ten, die als Kompanie-​Chirurgen die­nen woll­ten, wur­de die­ser Dienst oft ver­wei­gert. Der Gene­ral­arzt des 1. AK, Dr. Krantz, teil­te mit Schrei­ben vom 8. Juni 1825 dem Bewer­ber Kosch die Ableh­nung des Königs mit.

»(…) 1825 wies der König selbst noch den Stu­den­ten aus Königs­berg und spä­te­ren Abge­ord­ne­ten Rapha­el Jacob Kosch zurück mit der lako­ni­schen Begrün­dung, daß die Anstel­lung eines Juden als Kompanie-​Chirurg bis­her noch nicht statt­ge­fun­den habe. (…)«
(Vergl. »Juden­tum, Staat und Heer in Preu­ßen im frü­hen 19. Jahr­hun­dert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübin­gen, 1968, S. 119)

Erstaun­lich hier die Aus­nah­me des Haupt­manns der Artil­le­rie Meno Burg, über den wir berich­te­ten. Alles in einer Zeit, wo ein wan­kel­mü­ti­ger König den jüdi­schen Artil­le­ris­ten Meno Burg »zäh­ne­knir­schend« beför­der­te und ande­rer­seits einen ande­ren Israe­li­ten ablehn­te. König und Regie­rung gelan­gen es nicht, die zwei­fel­haf­te Rechts­la­ge zu bereinigen.

»(…) Mit die­ser brü­chi­gen Kon­struk­ti­on aus völ­lig hete­ro­ge­nen Rechts­ord­nun­gen und ‑anschau­un­gen, aus denen sich nie­mals eine ein­heit­li­che Posi­ti­on, son­dern immer nur ein wei­te­res, vor­läu­fi­ges Aus­hilfs­mit­tel aus der all­ge­mei­nen Prin­zi­pi­en­lo­sig­keit gewin­nen ließ, regel­te die preu­ßi­sche Regie­rung die Beför­de­rungs­fra­ge eben­so will­kür­lich wie definitiv. (…)«
(Vergl. »Juden­tum, Staat und Heer in Preu­ßen im frü­hen 19. Jahr­hun­dert«, Hg. H. Fischer, J. C. B. Mohr Tübin­gen, 1968, S. 123)

Der Pro­zess der Eman­zi­pa­ti­on kam mit den begin­nen­den 1820er Jah­ren des 19. Jhd. prak­tisch zum Still­stand. Mit dem Revo­lu­ti­ons­jahr 1848 fla­cker­te die­se dün­ne Flam­me noch ein­mal auf, ver­lösch­te jedoch abermals.

»(…) Erst im Jahr 1869, als der Hohenzollern-​Staat bereits den Nord­deut­schen Bund als Vor­stu­fe zum Deut­schen Kai­ser­reich gegrün­det hat­te, wur­de ein neu­er Anlauf möglich. (…)«
(Vergl.» Geschich­te der Juden in Preu­ßen (1750 bis 1820)«, A. A. Bruer, Cam­pus Ver­lag, 1991, S. 341)

Auf die immer wie­der­keh­ren­de Fra­ge, wie Clau­se­witz die­se Erschei­nun­gen rezi­pier­te, ver­su­chen wir erneut vage Ant­wor­ten zu fin­den. Unse­re drei Refor­mer von Boy­en, von Gnei­se­nau und Carl von Clau­se­witz leb­ten und dien­ten unter die­sen unkla­ren Bedin­gun­gen. Außer von Boy­en erfah­ren wir nichts Sub­stan­ti­el­les, das The­ma »Eman­zi­pa­ti­on« betref­fend, von dem Dreigestirn.

Gnei­se­nau ist auch noch Jah­re nach 1815 mit sei­nen Geg­nern von der Hof­par­tei beschäf­tigt. Er klagt über sei­ne Dota­ti­on »Som­mer­schen­burg« und hadert mit sei­nem Schick­sal. Aber zu kei­ner Zeit ver­liert er die »gro­ße Poli­tik« aus den Augen. Das Pro­blem der Eman­zi­pa­ti­on der Juden spielt zumin­dest in sei­nem Brief­ver­kehr bis in das Jahr 1831 kei­ne Rolle.

Clau­se­witz, nun­mehr 1831 unter Gnei­se­nau Gene­ral­stabs­chef der Obser­va­ti­ons­ar­mee an der Ost­gren­ze Preu­ßens, bie­tet durch sei­nen regen Brief­ver­kehr mit Feld­mar­schall Gnei­se­nau und sei­ner Gat­tin Marie kaum Ein­bli­cke, unser The­ma betreffend.

Bei unse­rem Carl, der im stän­di­gen freund­schaft­li­chen Gedan­ken­aus­tausch mit sei­nem väter­li­chen Freund Gnei­se­nau steht, fin­den wir also kei­ner­lei Hin­wei­se auf die Schwie­rig­kei­ten bei der Rekru­tie­rung jüdi­scher Men­schen für das preu­ßi­sche Heer. Erst im Jahr 1831, als Clau­se­witz wie­der auf »pol­ni­schem« Boden weilt, kom­men noch ein­mal Aver­sio­nen gegen Land und Leu­te dort zum Vor­schein. Der Begriff »Jude« fällt jedoch nicht, denn der Boden ist nun seit 1815 preu­ßisch. Die Pro­vinz Posen war der ein­zi­ge Lan­des­teil mit nicht-​deutscher Bevöl­ke­rungs­mehr­heit. Zwei Drit­tel der Men­schen dort spra­chen pol­nisch und waren katho­lisch, das Drit­tel der Deut­schen vor­wie­gend evan­ge­lisch. Der Anteil der Juden in der Pro­vinz war im Ver­gleich deut­lich höher als im Stamm­land Preußen.
(Vergl. dewi​ki​.de/​L​e​x​i​k​o​n​/​P​r​o​v​i​n​z​_​P​o​sen)

Pro­vinz Posen 1815 bis 1920 Quel­le: Wikipedia

In einem Brief an Marie vom 6. April 1831 schreibt Carl aus Posen im Zusam­men­hang mit mili­tär­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen an den Gren­zen Preußens:

»(…) Mir wird tau­send­mal bes­ser sein, wenn wir uns erst mit einem der bei­den Geg­ner, sei es Polack oder Fran­zos, bei den Ohren hätten. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clau­se­witz«, Ein Lebens­bild in Brie­fen und Tage­buch­blät­tern, Hg. K. Lin­ne­bach, Warneck Ber­lin, 1916, S. 427)

Zu Clau­se­witz´ Zei­ten war der Begriff »Polack« mit­nich­ten abwer­tend und durch­aus zeit­ge­mäß gebräuch­lich, so wie auch der »Fran­zos«. Den »Fran­zos« betref­fend müs­sen wir aller­dings an die­ser Stel­le auf eine frü­he Schrift Clau­se­witz´ ver­wei­sen. Im Jah­re 1807, immer noch unter dem Ein­druck der Kata­stro­phe von 1806 und nach­fol­gen­der Gefan­gen­schaft unter Napo­lé­on, cha­rak­te­ri­siert er »den Fran­zo­sen«. Der Auf­satz »Die Deut­schen und die Fran­zo­sen« spie­gelt die tem­po­rär deut­lich sicht­ba­re Fran­ko­pho­bie wider, mit der Clau­se­witz ent­spre­chend des Zeit­geis­tes aller­dings nicht allein stand.
(Vergl. »Karl von Clau­se­witz Poli­ti­sche Schrif­ten und Brie­fe«, Hg. Dr. Hans Roth­fels, Drei Mas­ken Ver­lag, 1921, S. 35 bis 51)

Anders sieht es jedoch aus, wenn der­sel­be Wochen spä­ter sei­ner Gat­tin am 23. Mai 1831 aus Posen über ein bür­ger­li­ches Schei­ben­schie­ßen berichtet :

»(…) Was ich bei dem Schei­ben­schie­ßen von der Pose­ner Bür­ger­welt sah, war eben nicht anzie­hend; Die Haupt­mas­se war ziem­lich aus der gerings­ten Klas­se; das Gan­ze hat­te wenig Cha­rak­ter, und der Begriff einer statt­li­chen Bür­ger­schaft fehl­te ganz. Nur eine Mas­se von Bäue­rin­nen aus den deut­schen Dör­fern haben mich durch ihren deut­schen Typus, deut­schen Anzug und echt süd­deut­schen Dia­lekt ergötzt. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clau­se­witz«, Ein Lebens­bild in Brie­fen und Tage­buch­blät­tern, Hg. K. Lin­ne­bach, Warneck Ber­lin, 1916, S. 439)

Die­ser Schil­de­rung ent­neh­men wir, dass sich bei Clau­se­witz über die Jah­re hin­weg mög­li­cher­wei­se so etwas wie Stan­des­dün­kel ent­wi­ckelt hat­te. Wir erken­nen hier eine zwar nicht aus­ge­spro­che­ne eth­ni­sche Tren­nung der »neu­preu­ßi­schen« Bevöl­ke­rung , aber durch Begrif­fe wie »Bäue­rin­nen deut­schen Typus« wohl erkennbar.

Hat­te Clau­se­witz nicht erkannt, dass die neue preu­ßi­sche Pro­vinz Posen vor­wie­gend agra­risch war, in der es noch kein ent­wi­ckel­tes Bür­ger­tum gab? Selbst rund ein Jahr­hun­dert spä­ter leb­te und arbei­te­te noch drei Vier­tel der Bevöl­ke­rung des­sel­ben Gebie­tes auf dem Land. Selbst Städ­ter betrie­ben klei­ne­re Land­wirt­schaf­ten nebenher.
(Vergl. http://​libra​ry​.fes​.de/​b​r​e​s​l​a​u​/​p​d​f​/​a​2​0​7​1​5​/​a​2​0​7​1​5​_​0​8​.​pdf)

Wir müs­sen hier also fest­stel­len, dass der Clau­se­witz des Jah­res 1831 nicht frei von Ten­den­zen der Segre­ga­ti­on war. Ob die­se gewag­te Fest­stel­lung aber auch auf sei­ne jüdi­schen Mit­bür­ger erwei­tert wer­den kann, wäre rei­ne Spe­ku­la­ti­on. Gleich­wohl muss hier dar­auf auf­merk­sam gemacht wer­den, dass die genann­ten Ten­den­zen auf bei­den Sei­ten der dama­li­gen Bevöl­ke­rung im Ver­lau­fe der Zeit zu natio­na­lis­ti­schen Bestre­bun­gen führ­ten, die sich bis hin in das Jahr 1945 letzt­end­lich ver­hee­rend auswirkten.

Wap­pen der Pro­vinz Posen Quel­le: Wikipedia

Zunächst wol­len wir jedoch noch ein­mal in das Jahr 1830 zurück­schau­en um eine über­ra­schen­de Ent­wick­lung zu betrach­ten. In die­sem Jahr erfuhr Clau­se­witz offen­sicht­lich ein schein­bar erstaun­li­ches Wohl­wol­len sei­nes Königs. Auf sei­ne Bit­te hin um Ver­wen­dung in der Trup­pe, die er am 27.12.1829 schrift­lich an den Mon­ar­chen rich­te­te, erhielt er am 9.3.1830 fol­gen­de Antwort:

»(…) In Ver­folg Mei­ner Ant­wort vom 7. 1. des Jah­res auf Ihr Gesuch um Über­tra­gung einer Trup­pen­füh­rung mache Ich Ihnen hier­durch bekannt, daß ich beschlos­sen habe, Sie in der Fol­ge, bei sich dazu erge­ben­der Erle­di­gung, in der Artil­le­rie anzustellen.[…]Ich bestim­me Sie für die­se Waf­fe vor­zugs­wei­se in der Erwä­gung, daß die­sel­be Ihnen bei Ihrer viel­sei­ti­gen wissenschaftlich-​militärischen Aus­bil­dung und Ihrer Nei­gung zur beson­de­ren Tätig­keit mehr­fa­che Ver­an­las­sung gibt, für mei­nen Dienst nütz­lich wirk­sam zu sein. (…)«
(Vergl. Pries­dorf, »Sol­da­ti­sches Füh­rer­tum«, Hg. Kurt von Pries­dorf, Han­sea­ti­sche Ver­lags­an­stalt Ham­burg, T. 8, 1429., S. 70)

Aller­dings »hum­pel­te« die­se Anstel­lung. Gnei­se­nau teil­te Stein mit, dass der Beweg­grund wohl war, dass dem König »ande­re Talen­te« fehl­ten und es womög­lich Beschwer­den gegen Clau­se­witz gab, sei­ne Dienst­füh­rung an der Kriegs­aka­de­mie betref­fend. Dort fand er sich als Direk­tor der Schu­le mit Miss­stän­den, die er nicht zu ver­ant­wor­ten hat­te, nicht ab.
(Vergl. Carl von Clau­se­witz Per­sön­lich­keit und Wir­kungs­ge­schich­te sei­nes Wer­kes bis 1918, Hg. U. Mar­we­del, H. Boldt Ver­lag, 1978, S. 56)

Unab­hän­gig davon mach­te sich Clau­se­witz Ende 1830 – zu Pla­nungs­be­ra­tun­gen geru­fen, die mit der Juli-​Revolution in Frank­reich befasst waren – wei­test­ge­hend unentbehrlich.
(Vergl. eben­da, S. 57). Sei­ne Beru­fung in ein neu­es Kom­man­do war die logi­sche Fol­ge sei­ner her­vor­ra­gen­den Arbeit)

Im Ver­lau­fe sei­nes Auf­ent­hal­tes bei der Obser­va­ti­ons­ar­mee erfüll­te der als Chef des Gene­ral­sta­bes (C. v. C.) zuver­läs­sig umfang­rei­che Arbei­ten in der ope­ra­ti­ven Füh­rung der­sel­ben. Durch glück­li­che Umstän­de wur­de Preu­ßen nicht in die Kämp­fe zwi­schen den Rus­sen und Polen ver­wi­ckelt und spiel­te die Rol­le des Beob­ach­ters. Von erheb­li­cher Wich­tig­keit war außer­dem die Rea­li­sie­rung des »Cor­don sani­taire«, um ein Über­grei­fen der Cho­le­ra nach Preu­ßen zu ver­hin­dern. Mit bei­den Auf­ga­ben war Clau­se­witz sehr zur Zufrie­den­heit sei­nes Chefs – Feld­mar­schall Gnei­se­nau – befasst. Die­ser schil­der­te des­sen Arbeit in einem Brief an die Frau von Clausewitz.

»(…) Frei von Nah­rungs­sor­gen, bewe­ge ich mich hier zwi­schen wenig läs­ti­gen Geschäf­ten, Lek­tü­re und Spa­zie­ren­ge­hen; Clau­se­witz mit sei­nem vor­treff­li­chen Geschäfts­geist bringt in jene die offi­zi­el­le Ordnung. (…)«
(Vergl. »Gnei­se­nau Ein Leben in Brie­fen«, Hg. Dr. Karl Grie­wank, Koeh­ler & Ame­lang /​Leipzig, 1939, S. 389)

Clau­se­witz ertrug offen­sicht­lich gedul­dig die Pas­si­vi­tät Gnei­sen­aus, die er vor allem ange­sichts der wach­sen­den Kriegs­ge­fahr in West und Ost nach­weis­lich nicht gut­hieß. Nach Hau­se an sei­ne Marie schrieb er am 28. Mai. 1831:

»(…) Wie wenig befrie­di­gen mich alle mei­ne Ver­hält­nis­se und Pflich­ten! […] im Inne­ren des Her­zens ist eine gro­ße Ver­stim­mung in mir. (…)«
(Vergl. »Karl und Marie von Clau­se­witz«, Ein Lebens­bild in Brie­fen und Tage­buch­blät­tern, Hg. K. Lin­ne­bach, Warneck Ber­lin, 1916, S. 441)

Wie­der­um war Clau­se­witz eine ech­te Aner­ken­nung auch in sei­nem letz­ten Kom­man­do von höchs­ter Stel­le ver­sagt. Sie wur­de erst nach dem Able­ben Gnei­sen­aus sicht­bar. Weh­mü­tig und ahnungs­voll daher sei­ne Kla­ge vom 28. Juli 1831 – auch im Zusam­men­hang mit der Cho­le­ra zu sehen – gerich­tet an sei­ne Frau.

»(…) Wenn ich ster­be, teu­re Marie, so ist es in mei­nem Beruf. Gräm Dich nicht zu sehr um ein Leben, womit nicht viel mehr anzu­fan­gen war. […] Ich kann nicht sagen, mit wel­cher Gering­schät­zung des mensch­li­chen Urteils ich aus der Welt gehe. (…)«
(Vergl. eben­da S. 472)

Nicht uner­wähnt soll jedoch sein, dass der viel­be­schäf­tig­te Gene­ral neben allen Sor­gen und Ängs­ten Zeit und Muße fand, sich mit innen­po­li­ti­schen Pro­ble­men zu beschäf­ti­gen und sich als Per­son noch ein­mal zu verorten.

In einem Brief an Marie vom 24. März 1831 lesen wir:

»(…) Sehr viel Ver­gnü­gen hast Du mir mit der Abschrift des Schlei­er­mach­schen Auf­sat­zes gemacht. Er wird ihn beim Köni­ge reha­bi­li­tie­ren und ist eine ganz ande­re Wider­le­gung der Arti­kel im M. b. Ch. [Mes­sa­ger des Cham­bres] als der Auf­satz von W. [Wil­li­sen?] und jeder ande­re, den man ein­rü­cken ließ. Ich habe ihn hier rechts und links mit­ge­teilt, wo er mit größ­tem Inter­es­se gele­sen wor­den ist. (…)«
(Vergl. eben­da S. 423 bis 424)

Clau­se­witz kann­te den Theo­lo­gen Fried­rich Dani­el Ernst Schlei­er­ma­cher(*1768; †1834) von der »Deut­schen Tisch­ge­sell­schaft« her. Im Rah­men der »Dem­ago­gen­ver­fol­gung« stand auch Schlei­er­ma­cher wie ande­re Pro­fes­so­ren der Uni­ver­si­tä­ten unter Druck. Ein Ber­li­ner Kor­re­spon­dent der fran­zö­si­schen Zei­tung »Mes­sa­ger des Cham­bres« hat­te ihn im Zusam­men­hang mit den »Umtrie­ben« auf die »lin­ke Sei­te« gesetzt. Dage­gen hat­te Schlei­er­ma­cher pro­tes­tiert, indem er sich ver­wahr­te, weder einer lin­ken noch einer rech­ten Sei­te anzugehören.
(Vergl. »Chris­ten­tum, Staat, Kul­tur: Akten des Kon­gres­ses der Inter­na­tio­na­len Schleiermacher-​Gesellschaft Ber­lin, Hg. Arndt, Barth, Gräb, d. Gruy­ter /​Berlin , 2006, S. 377 bis 378)

Sicher befrie­dig­te es Clau­se­witz, dass Schlei­er­ma­cher, den er ver­mut­lich schätz­te, damit aus dem Fokus des Königs genom­men war. Obwohl die Tex­te Schlei­er­ma­chers in der dama­li­gen Gesell­schaft mit­un­ter kon­tro­vers rezi­piert wur­den, kön­nen wir uns vor­stel­len, dass Clau­se­witz reli­giö­se Ansich­ten des Theo­lo­gen, die nicht immer vom König tole­riert wur­den, mit­un­ter teil­te. Sei­ne »Glau­bens­leh­re«, erschie­nen 1821 und 1822, war für die­se Zeit außer­or­dent­lich modern. Der Phi­lo­soph Clau­se­witz hät­te sich einer The­se Schlei­er­ma­chers viel­leicht anschlie­ßen kön­nen, die da lautete:

»(…) Der Mensch ist sich immer einer par­ti­el­len Frei­heit und einer par­ti­el­len Abhän­gig­keit in allem Den­ken und Han­deln bewusst, aber gera­de die teil­wei­se Abhän­gig­keit in allem Bewusst­sein der Frei­heit führt letzt­lich auf ein Gefühl völ­li­ger Abhängigkeit. (…)«
(Vergl. »Fried­rich Schlei­er­ma­cher« Aus Enzy­klo­pä­die der deut­schen Lite­ra­tur, world​-lite​ra​tu​re​.org/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​/​F​r​i​e​d​r​i​c​h​_​S​c​h​l​e​i​e​r​m​a​c​her)

Fried­rich Dani­el Ernst Schlei­er­ma­cher (*1768; †1834) Quel­le: For­schung & Lehre

Beson­ders Schlei­er­ma­chers Ansich­ten über das Stu­di­um wird Clau­se­witz gera­de in sei­ner Zeit als Direk­tor der »All­ge­mei­nen Kriegs­schu­le« aus dem Her­zen gespro­chen haben.

»(…) Je mehr sich der Geist der Wis­sen­schaft regt, des­to mehr wird sich auch der Geist der Frei­heit regen, und sie wer­den sich nur in Oppo­si­ti­on stel­len gegen die ihnen zuge­mu­te­te Dienstbarkeit. (…)
(Vergl. »Die Idee der Uni­ver­si­tät – revi­si­ted«, Hg. Ricken, Kol­ler, Sprin­ger VS, 2014, S. 72 bis 73)

Wir haben nun ver­sucht, Clausewitz´Entwicklung über die Zeit sei­ner mate­ri­el­len, sozia­len und geis­ti­gen Selbst­fin­dung zu ver­fol­gen. Eine gerad­li­ni­ge Ver­bin­dung zum eigent­li­chen The­ma konn­ten wir nicht her­stel­len. Der Gene­ral war uns dabei nicht behilf­lich. Das hat­te Gründe.

»(…) Indem sein äuße­res Leben zu einer gewis­sen Ruhe und Gleich­mä­ßig­keit gelangt, sind auch die wich­tigs­ten inne­ren Ent­schei­dun­gen gefal­len; […] So schrei­tet Clau­se­witz in die neue Epo­che hin­über, ohne die bewuß­ten Kon­flik­te oder die unbe­wuß­ten Zäsu­ren zu erfah­ren, […] Die skep­ti­sche Hal­tung, die er in schwe­rem Kampf errun­gen, bewahr­ten ihn davor, (…)«
(Vergl. »Carl von Clau­se­witz Poli­tik und Krieg«, Hg. Hans Roth­fels, Dümm­ler, 1920, S. 192)

Clau­se­witz war ein vor­züg­li­cher Sol­dat, ein genia­ler Militär-​Philosoph, ein poli­ti­scher Den­ker. Ein Poli­ti­ker – im Inter­es­se der jüdi­schen Min­der­heit – war er mit­nich­ten, wie wir mei­nen. Daher sagen wir uns »Respi­ce post te, homi­nem te esse memento«.

Als der Feld­mar­schall Gnei­se­nau am 6. März 1831 an Clau­se­witz schrieb, …

»(…) Wir bei­de sind bestimmt, nach Posen zu gehen und zwar auf das schleu­nigs­te. Ich habe dem G[eneral] Witz­le­ben als Zeit mei­ner Abrei­se den 8. d. [über­mor­gen] bestimmt. Oet­zel und Brandt sol­len mit uns gehen. – Der Ihri­ge G.
Die Abrei­se soll als Geheim­nis behan­delt werden. (…)«
(Vergl. »Gnei­se­nau« Ein Leben in Brie­fen, Hg. Dr. Karl Grie­wank, Köh­ler & Ame­lang /​Leip­zig, 1939, S. 383)

… konn­te kei­ner von den bei­den Män­nern ahnen, dass die­ses Kom­man­do ihr letz­tes sein würde.

Die Cho­le­ra, der unsicht­ba­rer und heim­tü­cki­sche Feind, wur­de ihnen zum Ver­häng­nis. Am 23. August 1831 starb Gnei­se­nau, und am 16. Novem­ber erlag auch Carl von Clau­se­witz dem »Gal­len­brech­durch­fall«, dem die Preu­ßen, Rus­sen und Polen zu die­ser Zeit rela­tiv macht­los aus­ge­setzt waren. Erst 1854 wur­de das Bak­te­ri­um »Vibrio cho­le­rae« ent­deckt, das die­se ver­hee­ren­de Krank­heit erregte.

Grab­stel­le Marie und Carl von Clau­se­witz in Burg Quel­le: Autor

König F. W. III. schreibt am 22.11.1831 zu Clau­se­witz´ Tod an den Gene­ral Graf Zie­ten, der dem Mon­ar­chen die Mel­dung über des­sen Able­ben erstat­tet hatte:

»(…) Ihre Mel­dung von dem plötz­li­chen Able­ben des Gene­ral­ma­jors von Clau­se­witz, Inspek­teur der 2. Artil­le­rie­in­spek­ti­on, ist Mir eben­so uner­war­tet als schmerz­lich gewe­sen. Die Armee erlei­det dadurch einen schwer zu erset­zen­den Ver­lust, der mich sehr betrübt. (…)«
(Vergl. Pries­dorf, »Sol­da­ti­sches Füh­rer­tum«, Hg. Kurt von Pries­dorf, Han­sea­ti­sche Ver­lags­an­stalt Ham­burg, T. 8, 1429, S. 71)

Clau­se­witz wur­de auf dem alten Mili­tär­fried­hof in Bres­lau bei­gesetzt. Am 19. Novem­ber 1971 – nach 140 Jah­ren – wur­den die sterb­li­chen Über­res­te Clausewitz´und sei­ner Gat­tin Marie nach deren Über­füh­rung auf dem Bur­ger Ost­fried­hof mit einem fei­er­li­chen Staats­akt wie­der der Erde übergeben.

Die über­aus span­nen­de Geschich­te die­ses Ereig­nis­ses schil­dert Dr. Andrée Tür­pe in »Der ver­nach­läs­sig­te Gene­ral? Das Clausewitz-​Bild in der DDR«, 2. von Bres­lau nach Burg – die Rück­füh­rung des Gene­rals Carl von Clau­se­witz 1971, S. 117 bis 150.

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Zu den Häup­tern des Gra­bes steht ein Stei­ner­nes Kreuz, das auf den Armen die Inschrift trägt:

Hier ruht in Gott Karl Phil­ipp Gott­fried von Clausewitz
könig­li­cher Gene­ral­ma­jor und Inspek­teur der Artillerie
Geb. 1. 06. 1780 – Gest. 16. 11. 1831

Der Sockel des Kreu­zes trägt die Worte:

»Ama­ra mors amo­rem non separat«

Das Grab selbst bedeckt eine Stein­plat­te mit der Inschrift:

Hier ruht an der Sei­te des vor­an­ge­gan­ge­nen gelieb­ten Gemahls
Marie Sophie von Clau­se­witz geb. Grä­fin von Brühl
Geb. in War­schau 3.6.1779 – Gest. in Dres­den 28.1.1836

(Quel­le: Pries­dorf, S.71)

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